Rattentanz
erschienen auch heute fast alle Einwohner des Dorfes zum Gottesdienst. Kaum einen störte dabei der ungewohnte Wochentag. Aber weniger Glaube zog sie in die Kühle des kleinen Gotteshauses, es war vielmehr das Bedürfnis, in der Gemeinschaft Kraft und Hoffnung zu finden, dieses neue Leben zu begreifen, einen Platz in der neuen Welt zu finden.
Mit Faust waren auch Susanne, Lea und Eckard Assauer gekommen. Sie saßen auf einer der mittleren Bänke. Eva war bei Joachim Beck geblieben.
Hildegund Teufel und Thomas nahmen zwei Reihen hinter Susanne und Lea Platz. Die alte Frau bekreuzigte sich mehrmals und deutete einen Kniefall an, bevor sie sich setzte. Thomas folgte. Er klammerte sich an seine Tasche und die Melisse. Er würde sich später einen Tee kochen, einen heilenden Tee, einen beruhigenden Tee.
Die Kirche füllte sich weiter und bald waren sämtliche Plätze besetzt. Immer noch mehr Männer, Frauen und Kinder erschienen. Sie drängten sich auf der Empore und im Mittelgang und fühlten, dass sie nicht allein waren. All die bekannten Gesichter ringsum, jeder von ihnen hatte das gleiche Schicksal, war auf der Suche nach Orientierung. Sie waren zusammen, eine Gemeinschaft. Was geschehen war, konnte keiner von ihnen begreifen, geschweige denn erklären. Sie mussten zusammenhalten und stark sein, dann, so fühlten viele, konn te diese seltsame Zeit überstanden werden.
Punkt zehn Uhr erstarb das Raunen in der Kirche. Ein zarter Ton, hoch, zerbrechlich und unerwartet, ließ sie schweigen. Es mischte sich ein weiterer Ton dazu, schließlich ein dritter. Bardo Schwab hatte es ge schafft! Alle drei Glocken funktionierten. Sie riefen und jubilierten, dass das Gebälk hörbar ächzte. Die kleinste, am hellsten klingende von ihnen, trällerte ihre frohe Botschaft voller Überschwang und viel zu schnell hinaus. Wie ein aufgeregtes, plapperndes Kind, nicht zu bremsen von der älteren Schwester, die, pubertierend an der Schwelle zum Erwachsensein, ihren Gesang mit brüchiger Stimme und dem Stolz der Großen hinausschrie. Feierlich und mit erhaben dumpfem Lied führte die Großvaterglocke, sorgsam darauf bedacht, dass die Kleinen nicht aus dem Rhythmus kamen und schickte den Kirchgängern Hoffnung und ein klein wenig Licht.
Thomas betrachtete Lea, die den Fremden mit den buschigen Augenbrauen und der vorstehenden Unterlippe entdeckt hatte und nun auf ihrer Bank kniete und nach hinten zu Thomas sah. Seine Augen zogen sie magisch an.
Ein Engel, flüsterte eine Stimme. Ein winziges Engelein. Wie schön es ist, wie rein und wie es lächelt. Nummer zwei hauchte die Gedanken nur.
Lea zwinkerte Thomas zu. In seinem unsteten Blick erkannte sie ein Kind, einen Gleichaltrigen, eingezwängt in den viel zu großen Körper eines Erwachsenen.
Sieh doch, wie der Engel lächelt. Seht doch das lockige Haar und das Leuchten, das von ihm ausgeht. So schön, der Engel.
Und neben uns hockt des Teufels Großmutter!
Konnte es sein, dass Himmel und Hölle so eng beieinanderlagen, dass der Teufel den Tempel des Herrn betrat, ohne in stinkendem Schwe fel zu vergehen? Dieser Ort musste gut sein, verstand Thomas, wenn selbst der Teufel hier gut war und ein wahrhaftiger Engel vor ihm erschien.
Plötzlich hörte Thomas Nummer eins: Er ist gestorben. Die so vertraute Stimme sprach ganz leise.
»Wer?«, fragte Thomas, ohne den Blick von Lea lassen zu können. Aber er kannte die Antwort bereits.
Der Polizist. Jetzt eben.
Lea lächelte breit und versuchte zu verstehen, was Thomas sagte.
Jetzt musst du auf sie aufpassen.
»Auf wen muss ich aufpassen?«
Auf die Frau. Sie ist jetzt allein und du bist der Mann. Du musst auf die Frau achtgeben, Thomas, die Frau, die dich in dieses Paradies führte. Und auf den kleinen Engel dort vorn.
Joachim Becks Herz blieb mit dem ersten Glockenschlag stehen. Die Sonne schien in das Gästezimmer des Pfarrhauses und legte Wär me und Licht auf die weiße Bettdecke. Becks Gesicht lag im Schatten der Zimmerecke. Er war – seit Fuchs’ Angriff – nur einmal kurz erwacht. Eva hatte ihn mit Medikamenten versorgt, dann war er erneut weggedämmert – ein langsames Abgleiten hinüber ins Unbekannte, der letzte Schritt seiner Reise.
Eva, die seit Stunden an seinem Bett saß, dabei Becks Hand gehalten hatte und ihm von sich und von den vergangenen Tagen erzählt hatte, sagte gerade: »Ich glaube, ich habe abgenommen. Sieh mal, mei ne Hose. So locker hat sie noch nie gesessen«, als die ihr bereits seit zwei Stunden
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