Rattentanz
und dem Kind in ihr gut.
Eva Segers Hauptaufgabe war jetzt die Krankenversorgung. In erster Linie kümmerte sie sich um Durchfallerkrankungen, dem aktuell häufigsten Übel. Zwar hatte man eine Trinkwasserstelle oben am Bach lauf eingerichtet, es gab aber immer wieder vor allem Kinder, die abgestandenes Wasser aus Regentonnen tranken. Die zweithäufigste Diagnose, die sie zu stellen hatte, waren entzündete Wunden an Händen und Füßen. Die ungewohnten Arbeiten forderten von vielen ihren Tribut und führten zu Blasen und kleinen Rissen an den seltsamsten Stellen. Wer seit Jahrzehnten gewohnt war, morgens im Auto ins Büro zu fahren, dort acht Stunden Akten und Papiere zu wälzen und eine Computertastatur zu traktieren, um am Abend im bequemen Autositz zurück zu Fernseher und Sofa zu eilen, der hatte seit dem 23. Mai erhebliche Probleme, die neuen Aufgaben körperlich zu meistern. Wer war daran gewohnt, seine Wäsche von Hand in einem eiskalten Bachlauf zu waschen? Wer konnte problemlos zwei Eimer Wasser durch das halbe Dorf tragen? Wer ein größeres Stück Gartenboden mit einfachen Werkzeugen bearbeiten? Wer konnte mal eben ein metertiefes Loch hinter seinem Haus ausheben, das die Fäkalien der Hausbewohner aufnehmen sollte?
Der Rat hatte vergangenen Montag die dringende Empfehlung ausgesprochen, alle Privatgärten mindestens zu verdoppeln und alles an Saatgut auszubringen, was man bekommen konnte. Die Zeit, Ende Mai, war noch günstig und wenn es auch niemand hören wollte, muss te man doch ernsthaft darüber nachdenken, dass der Strom im kommenden Winter vielleicht immer noch nicht wieder funktionieren wür de. Was, wenn ihnen dann ein Winter ohne gefüllte Supermarktregale bevorstand? Was, wenn sie von dem leben sollten, was sie im Lauf des Sommers an Vorräten anlegen konnten? Es gab eine Handvoll Alte, die sich noch an Zeiten der Selbstversorgung und Vorratshaltung erinnerten. Aber woher bekam man die nötigen Samen, wie machte man die Ernte haltbar? Es war ein Glück im Unglück, dass die Katastrophe nach den Eisheiligen gekommen war, dem allgemeinen Startschuss für die frostsichere Freilandgartensaison. In den allermeis ten Gärten wuchsen bereits kleine Schösslinge, die seither gehegt wurden wie der eigene Augapfel. Was da wuchs, sicherte vielleicht einmal das eigene Überleben.
»Eva?«
»Moment. Ich trinke nur schnell einen Schluck Wasser.«
»Dann komm aber bitte«, sagte Susanne und nahm ihre alte Position wieder ein. Ihr Mann zuckte im Schlaf. Oder waren es Krämpfe? Es war unheimlich.
»So. Was ist los, Susanne? Wieso sitzt du hier im Dunkeln?« Evas Taschenlampe flammte auf der Suche nach Susanne kurz auf. Frieder hatte allen untersagt, die Lampen länger als unbedingt nötig zu benut zen. Vorgestern hatte er die letzten Batterien eingelegt. Eva setzte sich zu Susanne, Frieder hatte sie noch nicht bemerkt.
»Also?«
Statt einer Antwort nahm Susanne ihr die Taschenlampe aus der Hand. Frieder erschien wie ein außerirdisches Wesen, zusammengerollt auf dem Teppich vor Susannes Schrankwand. Ein Bein zuckte rhythmisch zu einer nur ihm zugänglichen Musik.
Eva sprang auf. »Was ist mit Frieder?« Sie ging zu ihm und fühlte seinen Puls. »Sein Herz …« Es raste wie ein vollbeladener Güterzug ohne Bremsen. Frieder Faust schwitzte, eine kalte, klebrige Ausscheidung. Der Teppich schimmerte an manchen Stellen feucht – er hatte eingenässt.
»Was ist mit ihm?«
Susanne zuckte nur mit den Schultern. Sie behielt die Hände im Schoß und betrachtete die Teppichfransen. Morgen würde sie diese mit einem breiten Kamm neu ausrichten müssen.
»Wieso hast du mich nicht geholt?«
»Ich wollte Frieder nicht allein lassen.«
»Ist er Epileptiker?« Bei der Untersuchung seines Mundes war ihr die blutige Zunge aufgefallen. »Hatte er schon einmal Anfälle, Krämp fe?«
Susanne brauchte einen Moment, um sorgsam die gemeinsamen Jahre zu durchforsten. Endlich schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie. »So was macht er nicht.« Sie betrachtete ihren Mann, der ihr plötzlich so fremd vorkam. Es verunsicherte sie, ihn hilflos und still am Boden ihrer guten Stube zu sehen. Frieder war immer der Starke, der, der wusste, was zu tun war. Er hatte doch noch lange nicht das Alter erreicht, in dem man so daliegen durfte, war noch keine Fünfzig und gesund wie ein Stier.
Fausts Stirn fühlte sich heiß an. Und klebrig wie ein vollgerotztes Ta schentuch. Eva untersuchte den Mann, er roch nach Schweiß und
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