Rattentanz
seinem eigenen Urin. Seine Pupillen jagten unter den geschlossenen Lidern. Fausts Beine zuckten und wenn die Krankenschwester ihn berührte, stöhnte er auf. Äußerlich unbeteiligt wartete Susanne im Türrahmen. Was sollte sie ohne Frieder nur anfangen?, ging es ihr durch den Kopf. Er war der Ernährer, er sagte, was zu tun und was zu unterlassen sei.
»Trinkt Frieder?« Eva versuchte die Frage so beiläufig wie möglich zu stellen. Alles an ihrem Nachbarn hatte sie sofort an Alkoholentzug erinnert. Sie hatte in den Jahren im Donaueschinger Krankenhaus mehr als einen Alkoholiker im Entzug erlebt und erkannte die Sympto me an Faust wieder. Als Susanne nicht sofort antwortete, wiederhol te sie ihre Frage: »Trinkt er regelmäßig?«
»Natürlich.« Es klang tonlos. »Jeder muss trinken. Mindestens zwei Liter täglich, sagt unser Arzt.«
»Susanne! Ich meine Alkohol. Trinkt Frieder regelmäßig Alkohol?«
Susanne starrte in die Dunkelheit. Natürlich trank Frieder regelmä ßig Alkohol, wer tat das nicht? Machten das nicht alle Männer? Sie überlegte, wer aus ihrem spärlichen Bekanntenkreis nicht jeden Abend sein Bier oder ein Glas Wein trank, aber Eva unterbrach sie.
»Alle Symptome deuten darauf hin, dass ihm Alkohol fehlt. Wie viel hat Frieder zu normalen Zeiten getrunken?«
»Drei oder vier Bier«, sagte Susanne. »Manchmal auch ein oder zwei Flaschen mehr. Du weißt doch, er hat den ganzen Tag gearbeitet und sein Feierabendbier hatte er sich hart verdient. Das war ihm wichtig, dass immer genug Bier da war.«
»Und Schnaps oder Wein?«
Susanne schüttelte den Kopf. »Nein. Wein mochte er gar nicht. Außer …« Sie überlegte und ließ die vergangenen Tage Revue passieren.
»In den letzten Tagen hat er auch mal ein Glas Wein getrunken oder einen Schnaps mit etwas Wasser. Es ist ja nirgends mehr Bier zu bekommen.«
Fast synchron mit den letzten Worten seiner Frau begann Faust plötzlich, am ganzen Körper zu zittern. Er hechelte, würgte und Arme und Beine zuckten. Eva versuchte seinen Kopf zu halten. »Schnell«, rief sie. »Gib mir irgendetwas, was ich ihm zwischen die Zähne schieben kann. Ein Holzbrettchen aus der Küche. Schnell!«
Aber das war schon nicht mehr nötig. Noch bevor Susanne ihren Platz verlassen konnte, erbrach Faust einen Schwall halbverdauter Spei sereste. Der säuerliche Brei klatschte auf Susannes Teppich. Eva spürte Übelkeit aufsteigen und einen unwiderstehlichen Würgereiz.
Plötzlich öffnete Faust die Augen. Sein irrer Blick wanderte zwischen Eva und seiner Frau hin und her. Die Lampe blendete ihn. Langsam kroch er vor ihnen zurück. Er hatte Angst.
»Weg«, sagte er. »Nehmt das weg.« Wieder musste er sich übergeben. Eva wollte ihn stützen, aber die Berührung wirkte wie ein Stromschlag auf ihn. Er sprang auf und stieß Eva weg. Sie stolperte nach hinten, blieb am niedrigen Couchtisch hängen und landete mit dem Kopf voran auf dem Sofa.
»Was wollt ihr von mir? Ihr wollt mich umbringen!« Faust flüster te. Er sah sich nach einem Fluchtweg um. Aber ein Schatten an der Tür versperrte den einzigen Ausweg. Alles um ihn schien böse und ihm nach dem Leben zu trachten. Sie wollten ihn umbringen, alles tat weh und er vermochte nur mit Mühe aufrecht zu stehen. Faust versuchte sich an der Schrankwand abzustützen, rutschte ab und räumte im Fallen Susannes entstaubte Porzellanfigurensammlung von ihrem Platz. Eine Figur nach der anderen fiel zu Boden und zerbrach. Auf al len vieren krabbelte Faust durch das Wohnzimmer, aber überall wa ren diese Dinger, die nach seinem Leben trachteten. Sie hatten Helfer mitgebracht: kleine, gelbe Wesen saßen in den Ecken, unter dem Teppich und hinter dem Schrank und kicherten und beobachteten ihn. Er konnte sie alle sehen, selbst durch die Möbel und Stoffe hindurch. Er fiel auf den Rücken und blieb wie versteinert liegen. Von der Decke seilten sich riesige Insekten herab. Fühler, so groß wie ein Kinderarm, zitterten in seine Richtung, an den Enden rasiermesserscharfe Scheren. Faust schrie und fuchtelte mit beiden Händen durch die Luft. Susanne schrak zurück und verschwand in der Küche. Das war nicht ihr Mann!
»Was ist mit Frieder?«, flüsterte sie aus sicherer Entfernung.
»Er halluziniert«, sagte Eva. »Wer weiß, was er sieht, aber er hat offensichtlich Todesangst. Wir dürfen ihm nicht zu nahe kommen!«
Faust bekam einen Blumentopf zu fassen, schrie, als könne er mit seinem Schrei die Geister vertreiben, und schleuderte
Weitere Kostenlose Bücher