Rattentanz
Kiefer vielleicht, dem würde er es sofort zutrauen. Auch Basler.
Faust hielt noch immer den Zipfel der Decke in der rechten Hand. Eine besonders harte Falte drückte gegen seine Wirbelsäule, wie die Knöchel einer Hand. Faust versuchte, mit den Füßen die Decke zu erreichen und nach unten zu strampeln. Aber vergebens. Sie lag als Wust aus Furchen, Knicken und Kälte unter ihm und so würde es bleiben, bis irgendwann jemand kommen und ihn davon befreien würde. Er könnte um Hilfe rufen, doch wer immer seine Schreie auch hörte, musste dazugehören, war mit Sicherheit Teil dieser Verschwörung, die Faust nicht verstand. Seine Kehle war ausgetrocknet, er fror auf seiner zerknüllten Unterlage und wenn kein Wunder geschah, musste er in wenigen Augenblicken auf sein Lager urinieren.
Ein Flackern ließ ihn den Kopf wenden. Faust riss die Augen auf. Sein Körper erstarrte und aus seinem Innern kletterte ein Kloß in seinen Hals. An der Wand, schräg über ihm, saß ein kleiner gelber Punkt. Faust versuchte zu erkennen, um was es sich handelte, als der Punkt sich plötzlich bewegte. Er wurde größer. Er wanderte die Wand herun ter und blieb in der Zimmerecke sitzen. Dann erschien ein zweites lebendes Licht. Dies hatte Scherenarme und zog eine leuchtende Spur hinter sich her, quer über die Wand.
Das Monster Delirium hatte Mitleid und schickte eine erste Vorhut gelber Ungeheuer in den Raum. Sie näherten sich ihrem Opfer, vertrieben die Fragen aus seinem kranken Geist. Nach und nach erfüllten sie alles erneut mit ihrem (irren) Sinn.
Gegen halb zwei in der Nacht sah Susanne nach ihrem Mann. Nachts war sie hier mit ihm allein. Eva musste sich ausruhen und Bubi war im Dorf auf Streife.
Als sie eintrat, war der kurze Augenblick der Wirklichkeit bereits vorübergezogen. Fausts Augen leuchteten wie Glas. Er beobachtete, wie die Frau die von Schweiß und Urin getränkte Unterlage wechselte, seine Fesseln überprüfte und ihn schließlich zudeckte. Er fror nicht mehr, aber nicht wegen der dünnen Decke – die Hitze saß in ihm, eine fiebernde, irrsinnige Glut, die es ihm unmöglich machte, seine Wärterin zu erkennen und sie nach einem Grund zu fragen. Aber war der Grund nicht ganz einfach? Tausend kleine gelbe Ungeheuer umlagerten ihn und waren Erklärung genug.
90
02:15 Uhr, Schrottplatz südwestlich von Berlin
----
Der Schmerz saß in Hans Segers Wade und er saß tief. Sehr tief. Seger versuchte, das Bein zu bewegen, ein Fehler, den er umgehend bereute. Die Schmerzen schlugen auf ihn ein und trieben Seger an den Rand der Bewusstlosigkeit. Sofort hielt er das Bein still und ließ sich wieder zurück in die dunkle Pfütze fallen.
Der fallende Lkw hatte Hans Seger ausgespuckt. Kurz vor dem Fahrzeug landete er im Schlamm der ehemaligen Kiesgrube. Ehe er das Geschehene begriff, war der Lkw auch schon über ihm. Im selben Moment, in dem das Wrack in den Schlamm krachte, setzte dieser Schmerz ein – ein Faustschlag, ein Knirschen. Hans spürte, wie etwas in seinem Bein brach und das Fleisch um diese Stelle herum wie in ei nem Schraubstock zusammengepresst wurde.
Das war’s, fuhr es ihm durch den Kopf. Ende der Reise. Bitte alles aussteigen, dieser Zug endet hier.
Der Lkw war auf dem Dach der Fahrerkabine gelandet und hatte Hans Segers linken Unterschenkel eingequetscht. Gefangen unter eisner riesigen schwarzen Faust.
Seger hielt das Bein still und versuchte, sich zurechtzufinden. Der Regen wurde stärker, von seinem eigenen Atem abgesehen war der Regen das einzige Geräusch. Er erinnerte sich, dass er sich auf einem Schrottplatz befand, sie hatten in einem alten Lkw die Nacht verbringen wollen, er und Henning Malow. Er richtete den Oberkörper auf. »Henning?« Die erhoffte Antwort blieb aus. Seger versuchte, etwas zu erkennen, aber die Nacht hier unten in der alten Kiesgrube war so undurchdringlich, dass jede Kontur im Schwarz des Dahinterliegenden ertrank. Und eine dichte, tiefe Wolkendecke sperrte das Sternenlicht aus.
Hans rutschte an die Fahrzeugkabine heran. Er schob seine Fingerspitzen unter das Dach und obwohl er wusste, dass es blanker Unsinn war, versuchte er es anzuheben. Er stöhnte, als es sich wenige Millimeter bewegte und wie zur Strafe sein gebrochenes Bein knetete. Dann fiel er zurück in den Schlamm.
»Henning Malow!«, schrie er. »Mach, dass du herkommst!« Der Regen, der auf die Fahrzeugwracks und in die Pfützen trommelte, blieb die einzige Antwort. Er spürte Panik in sich aufsteigen, die
Weitere Kostenlose Bücher