Rattentanz
Angst vor der Dunkelheit, gepaart mit Schmerz und dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Und Angst um Malow. Er starrte in die Nacht und auf den eisernen Koloss, der auf seinem Bein lag. Irgendetwas musste den Schrotthaufen zum Einsturz gebracht haben. Ihn selbst hatte es aus dem Fahrzeug geschleudert, warum nicht auch Malow? Das Ungetüm hatte sein Bein erwischt und Malow schien wie vom Erdboden verschwunden. Seger musste sich zur Ruhe zwingen. Er wollte schreien, am Fahrzeug zerren, sein Bein befreien, wollte fort von hier.
»Henning? Bist du hier irgendwo?« Wieder keine Antwort.
Vielleicht liegt er direkt neben meinem Bein, schoss es ihm durch den Kopf. Malows Beine ragen auf der anderen Seite der Kabine in die Nacht und der Rest … Er versuchte den von seiner Panik geborenen Gedanken abzuschütteln, aber einmal angekommen, machte der Ge-danke sich breit. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, dem Bild, das sich da aus dem Nichts erhob, zu entkommen: Malow, von ihrem Nachtlager zerquetscht. Zwei Beine, die in die Dunkelheit ragten und Blut, sehr viel Blut, welches der Regen verdünnte und breit schmierte. Und er selbst, Hans Seger, lag mitten darin, hatte Angst und war allein.
»Nein, ihm ist nichts passiert«, flüsterte Hans in die Nacht. Er drückte beide Fäuste gegen seine Augen – winzige Lichtblitze, die nichts erhellten.
Ein Hebel! Eine Stange!
Vielleicht lag hier irgendwo ein Werkzeug, das er unter das Dach schieben und mit dessen Hilfe er mit etwas Glück und noch mehr Kraft die Kabine eine Winzigkeit anheben könnte. In dem engen Radius, den ihm seine Fußfessel ließ, tastete er den Schlamm um sich herum ab: Steine, eine Radkappe, sonst nichts. Er rutschte ein Stück in die andere Richtung. Jede Bewegung steigerte dabei die Schmerzen in seinem Bein, die beiden voneinander getrennten Enden eines Knochens schabten aneinander und gaben sich alle Mühe, den Mann zur rettenden Ohnmacht zu überreden.
Er legte eine Pause ein. Schweiß perlte von seinem Gesicht und vermischte sich mit feinen Regentropfen. Wieder fiel er nach hinten in den Morast und als er die Arme wie zum Zeichen der Kapitulation ausbreitete, berührte seine linke Hand etwas Weiches. Er bekam es zu fassen und zog. Es war sein Rucksack.
Er öffnete ihn. Für einen kurzen Moment vergaß er den Schmerz. Er durchwühlte den Rucksack und warf dabei einen Teil der Vorräte in den Schlamm. Dann endlich hatte er die Taschenlampe gefunden. Und in ihrem Lichtschein sah er Henning Malow nur zwei Meter neben sich auf dem Bauch liegen. Besinnungslos. Er wirkte schlaff, wie tot, aber sein Brustkorb hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Er lebte.
Noch.
Hans Seger erkannte sofort die Gefahr, in der Malow schwebte. Er lag mit halb offenem Mund in einer Pfütze. Von Malows Stirn wanderte ein dünner Blutfinger über sein Gesicht und das schlammige Wasser hatte bereits dessen Unterlippe erreicht. Es regnete weiter und von den Hängen der Kiesgrube plätscherten bereits winzige Rinnsale zu ihnen herunter. Malow lag in einer kleinen Senke, die keinen Abfluss hatte. Selbst wenn der Regen augenblicklich aufhörte, musste der Wasserspiegel der Pfütze noch lange ansteigen. In ein paar Minu-ten würde das Wasser in Malows Mund schwappen und ihn entweder mit einem Hustenanfall wecken oder aber ersticken. In einer Pfütze na he der deutschen Hauptstadt ersoffen. Lebwohl Rom.
Seger wusste, dass er nicht abwarten und auf einen Hustenanfall Malows hoffen durfte. Malow war seine Hoffnung. Die Einzige. Sollte er hier liegen bleiben und nicht mehr erwachen, besiegelte das auch Hans Segers Schicksal. Ohne die Hilfe seines Begleiters war die eige ne Befreiung ein Ding der Unmöglichkeit. Er musste Malow retten, um sich selbst zu retten.
Seger warf den Rucksack zur Seite und streckte sich zu Malow hin über. Kopf und Schulter lagen ihm am nächsten. Aber so sehr er sich auch abmühte und die eigenen Schmerzen ignorierte, es fehlten zwanzig Zentimeter. Von weither weinte ein Kind.
»Wach endlich auf, du blöder, alter Mann!« Hans warf kleine Steine nach Malow, er schrie ihn an und schlug ihm schließlich mit der Taschenlampe gegen die Schulter. Aber all das nützte nichts – Malow blieb in seiner Bewusstlosigkeit gefangen wie ein lebenslänglich Verurteilter in seiner engen kalten Zelle.
Seger sah sich um. Es musste eine Rettung geben, irgendeinen Ausweg!
Silvia hörte ihr Kind schreien. Weit weg, außerhalb der Grube, aber trotzdem nah genug, um bis
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