Rattentanz
gehörte und um dessen Wert kein Erwachsener wusste. Kleine bunte Papieretiketten, die an je dem Teebeutel hingen, verwandelten sich in den Kinderhänden in bares Geld. Jedes Etikett besaß einen festen, allgemein akzeptierten Wert und konnte problemlos gegen Süßigkeiten, Comics oder eine Probefahrt auf dem neuen Rad eines Freundes getauscht werden. Aber irgendwann kam der Tag, an dem einer nach dem anderen erkannt hatte, wie wertlos ihre Währung in der wirklichen Welt war. Hans selbst an seinem neunten Geburtstag. Er ging mit einer erheblichen Sammlung seiner Teebeuteletiketten nach Bonndorf in den einzigen Spielzeugladen der Gegend. Wenig später fand er sich mit hängenden Schultern vor der Tür. Was er als einen großen, kaum ermesslichen Schatz angesehen hatte, war wertlos. So wertlos wie dieses Geldpaket hier.
»Geld ist ein guter Anfang.« Hans nahm Zettel und Stift. Sorgfältig und so klein wie möglich schrieb er Worte und ihre Bedeutungslo- sigkeit eng an die obere Kante des Blattes. Daneben: Für Lea-Maus. Er unterstrich die Überschrift, danach notierte er den Begriff Geld. Dann sah er Malow an. »Und, alter Schwede, fällt dir noch etwas ein?«
»Flugzeug«, sagte Malow. Hans schrieb es auf.
»Parkplatzsuche«, sagte Silvia und erklärte den beiden Männern, dass sie oft mehr als dreißig Minuten die Straßen in der Nähe ihrer Wohnung abfahren hatte müssen, bevor sie eine kleine Lücke für ihren Wagen fand. An Glückstagen wurde sie schon nach zehn Minuten fündig, an schlechten dauerte es eine Dreiviertelstunde.
»Börsencrash«, sagte Hans.
»Selbstverwirklichung«, kam von Silvia. Malow lächelte und Hans schrieb Selbstverwirklichung und dahinter Emanzipation. So ging es die nächsten zwei Stunden und Silvia fühlte, dass Malow sie endlich akzeptierte, ihre Anwesenheit akzeptierte. Es war das erste Mal in den vergangenen vier Wochen, dass sie ein paar Minuten keine Angst vor dem Morgen hatte. Sie hatte das Gefühl, mit den richtigen Menschen am richtigen Ort zu sein und auch, wenn der Ort sich in den kommenden Wochen noch oft ändern sollte und sie keine Ahnung hatte, wo sie einmal leben würde, war doch alles in Ordnung, solange Hans und auch Henning Malow da waren.
Gemeinsam sammelten sie all die Begriffe, die mit dem 23. Mai plötzlich ihre Bedeutung verloren hatten, entweder weil es sie nicht mehr gab – wie Auto, Eisenbahn oder Telefon – oder weil jetzt Wichtigeres existierte als Selbstverwirklichung und Emanzipation. Sie erzählten sich gegenseitig die Geschichten, die sie mit den jeweiligen Be griffen verbanden – manchmal lustige, manchmal nachdenkliche. Es waren Begriffe wie Talkshow und Vorsorgeuntersuchung, Kaufrausch, Langeweile und Weltwirtschaft, Raumfahrt, Supermarkt, Reiz überflutung, Bundestagswahl und Fernreise. Als Fernreise fiel, legte Malow Protest ein.
»Was glaubt ihr, was ich gerade mache, he? Als Wochenendausflug kann man das ja wohl nicht bezeichnen!«
Hans strich Fernreise, aber so, dass man es noch lesen konnte.
»Freizeitkultur«, sagte er dann.
»Oh ja, das ist gut!«, freute sich Silvia. »Da stecken gleich zwei Eswar-einmal drin: Freizeit und Kultur und für beides dürfte vorerst keiner mehr allzu viel Zeit besitzen.«
»Swingerclub.« Das kam von Malow. Silvia und Hans sahen ihn an. »Was glotzt ihr so?«, lachte der und spielte den Entrüsteten. »Ich habe gehört, dass es so was gibt.«
»Gehört.« Hans zog das Wort unnatürlich in die Länge. »Natürlich, das hast du gehört.«
Silvia, die zuerst bis über beide Ohren errötete, versteckte ihren Mund hinter der vorgehaltenen Hand. Sie wusste, wie sehr ihr Lachen sie zum Negativen veränderte.
»Anzeigen. Habt ihr noch nie diese Anzeigen gesehen, in Schweden meist auf den Rückseiten irgendwelcher kostenloser Wochenzeitschriften. Swingerclub – scheint ja wohl ziemlich normal gewesen zu sein, wenn man dafür ungestraft inserieren durfte.« Sie einigten sich, dass der Begriff an sich zwar korrekt war, Hans ihn aber trotzdem nicht notieren sollte. Schließlich war der Zettel in erster Linie für Lea bestimmt.
»Lea-Maus klingt schön«, sagte Silvia. »Vielleicht gibt Larissa auch einmal jemand einen Kosenamen. Wieso nennst du sie Maus?«
Hans zog sein Portemonnaie mit den vielen unnütz gewordenen Papieren aus der Hosentasche. Ausweis, Führerschein, Krankenversicherungskarte dachte er, alles Begriffe für unsere Liste. Er fand das Foto von Eva und Lea. Auf der Rückseite klebte – sein
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