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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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oder links. Entweder lässt man den positiven oder aber den animalischen Anlagen in sich freien Lauf. Zuletzt bleiben vermutlich die übrig, die entweder bereits zu einer funktionierenden Gemeinschaft gehörten oder aber zügig Anschluss daran finden. Einzelkämpfer und Individualisten und Selbstverwirklicher werden das aber auf keinen Fall sein. Logisch, dass es die kleinen Dörfer sind, die wahrscheinlich überleben. Hier gibt es Familienbande, die Anzahl der Mitglieder ist überschaubar, sodass jeder jeden kennt und die zu jedem Dorf mehr oder weniger dazugehörende Landwirtschaft wird sie hoffentlich am Leben erhalten.«
    Hans Seger, Henning Malow, Silvia und ihre Tochter hielten sich so gut es ging von allen menschlichen Siedlungen fern. Sie kamen zügig voran und nachdem Silvia Hans’ Unterlage mit Decken und Moos abgepolstert hatte, war für ihn die Fahrt fast ein Vergnügen. Nur selten trafen sie auf andere Reisende und wenn, hatten die meisten von ih nen nur Augen für das Pferd. Sobald Silvia eine Gestalt am Horizont erkannte, auf die sie treffen mussten, ging Malow zwei, drei Meter vor den anderen, das Gewehr gut sichtbar vor der Brust. Den Fehler von heute Vormittag wollten sie kein zweites Mal wiederholen. Es war zwei Stunden nach ihrem Aufbruch von der SchrottplatzKiesgrube gewesen. Malow war neben Seger hergelaufen und beide unterhielten sich über die voraussichtliche Dauer der Reise. Silvia hat te den Schwarzen geführt. Sie genoss es, endlich wieder unterwegs zu sein. Und sie genoss den Schutz der beiden Männer. Was wäre sie ohne Seger und Malow? Tot, vergewaltigt, Prostituierte? Verrückt, vermutete sie, wahrscheinlich wäre sie durchgedreht. Zu ihren Eltern ins Ruhrgebiet wollte sie schon lange nicht mehr. Warum auch? Sie waren nur die einzigen Menschen, die ihr neben Larissa nahestanden, oder einmal nahegestanden hatten, wenn überhaupt. Zu ihnen hatte sie sich nur in Ermangelung einer besseren Alternative aufgemacht und aufgebrochen war sie nur wegen Larissa.
    Silvia betrachtete Hans. Die meiste Zeit hatte der Larissa bei sich auf dem Wagen. Die Kleine vertraute ihm, vielleicht liebte sie ihn so gar. Sie war ein Kind und durfte das. Die Woche in der Kiesgrube hatte die beiden, Larissa und Hans Seger, einander nahegebracht. Während Silvia den Wald nach Nahrung absuchte, nahm Hans ganz selbstverständlich das Kind und – Silvia hatte vor Glück und vor Trauer, nicht dabei gewesen zu sein, geweint – bei Hans sagte sie ihr erstes Wort: Aoo, was soviel wie Auto bedeuten sollte. Dazu zeigte sie, als wüsste sie um den evolutionären Schritt, den sie soeben unternommen hatte, auf den uralten Lastwagen, unter dem Hans’ Bein gebrochen war. Das war drei Tage her. Fortan war alles Aoo: Bäume, das kleine Lagerfeuer am Abend, sogar sie selbst war ein Aoo. Aoo, Auto, überlegte Silvia, so ziemlich das sinnloseste Wort dieser Zeit. Jetzt, auf der Reise, sah das Kind viele Aoos: kaum ein Kilometer Wegstrecke ohne ein liegen gebliebenes Fahrzeug am Straßenrand. Viele von ihnen hatte man aufgebrochen, oft steckte noch ein Schlauch im Tank. Larissa freute sich über jedes neue Aoo, egal ob es neu oder alt, ob es unversehrt oder ausgebrannt, leer oder voller Leichen war. Es war ein Aoo und nur dies schien wichtig.
    So in Gedanken versunken führte Silvia am Vormittag den Schwarzen aus einem kleinen Kiefernwald, als sie plötzlich vor einem ein-zelnen Mann stand, der ihnen auf seiner Wanderschaft entgegenkam. Er hatte nur Augen für das Pferd, Hans und Malow dahinter wollte oder konnte er nicht sehen. Blitzschnell zog er ein Messer aus dem Gürtel und stieß Silvia zur Seite. Der Schwarze schnaubte und legte den Rückwärtsgang ein. Er warf den Kopf zur Seite und der erste Angriff verfehlte das Tier knapp am Hals. Malow hatte die Situation als Erster erfasst. Er stürzte nach vorn. Das Gewehr im Anschlag, baute er sich vor Silvia und dem Schwarzen auf. Aber dem Angreifer schien dies egal. Er hatte sich seit Tagen nur von bitteren Wurzeln, Gras und Moos ernährt. Gestern hatte er eine ziemlich frische Leiche entdeckt, sie war sogar noch lauwarm und bis auf ein nässendes Geschwür am Arm völlig unversehrt. Er hatte lange vor der Leiche gesessen, die Fliegen verscheucht und ein kleines Feuer entzündet. Er hatte sich einen langen Spieß geschnitzt. An der Toten war nicht mehr viel dran. Das sah er als er sie auszog und überlegte, welches Stück wohl am zartesten sei. Oberschenkel und Hüften fand er ganz

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