Rattentanz
lächelte und weinte, als er endlich aufstand und die Finger erneut nach Hildegund Teufel ausstreckte. Mit dem Erinnern fiel die Last von ihm. Seine Finger zitterten. Er berührte ihre Wange, die geschlossenen Augen. Und er riss ihr drei Haare aus, einzeln und ohne Hast. Seine Stimmen schwiegen, während er die Haare in eine kleine Tablettendose legte, die auf dem Nachtschrank lag. Thomas beugte sich über Hildegund Teufel und küsste sie auf die Stirn. Dann bedeckte er ihr Gesicht mit dem Laken.
Als er das Haus verließ, fühlte er sich stark. Lea konnte nun nichts mehr geschehen. Er trug drei magische Haare bei sich, drei Haare von einer alten Frau, einer Großmutter. Einer Großmutter, die Teufel hieß.
96
09:02 Uhr, Wellendingen
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Hermann Fuchs mistete den Stall aus. Er hatte schlecht geschlafen, zu viele Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf.
Da war zum einen seine ständige Angst, dieser Krankenschwester noch einmal im Stall oder auf dem Heimweg zu begegnen. Er wusste, dass ihm sein neues Äußeres zwar hinreichend Schutz bot, er wusste aber auch, dass es manchmal ziemlich dumm laufen konnte. Dank seiner Tarnung und eines ausreichenden Sicherheitsabstandes hatte sie ihn bisher noch nicht erkannt. Aber das war keine Garantie. Manchmal war es nur ein Blick oder eine Geste, die eine ganze Kaskade von Erinnerungen anstoßen konnte. Und am Ende dieser Erinnerungskaskade …? Fuchs hatte sich inzwischen entschlossen, Evas Entführung allein zu probieren. Probieren, dachte er, während er eine Kuh zur Seite schob, ist jedoch das völlig falsche Wort. Es gab bei dieser Angelegenheit kein Probieren, er hatte nur einen einzigen Versuch. Und der musste sitzen. Wenn nicht … Ihm lief es – trotz der Wärme, die die Tiere ausstrahlten und trotz der ungewohnten körperlichen Arbeit –
kalt den Rücken hinunter. Sollte Fuchs die Entführung vermasseln, brauchte er sich nie wieder vor Kiefer sehen zu lassen. Dann konnte er sein Geld abschreiben und hätte wahrscheinlich alle Hände voll zu tun, um das eigene Leben zu retten. Andererseits bot der Alleingang, den er plante, ungeahnte Möglichkeiten. Fuchs lächelte. Er sah sich, neben Kiefer, schon als Herrscher einer kleinen Schar. Männer und Frauen, hatte Kiefer versichert, hatte er in Bonndorf bereits um sich versammelt und bald sollte auch er dazugehören.
Hermann Fuchs missachtete die Schmerzen im Rücken und schaufelte die dampfenden Exkremente der Rinder in eine Schubkarre. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Lydia Albicker. Die stand am Tor und unterhielt sich mit dem weißhaarigen Alten, der als Einziger den Flugzeugabsturz überlebt hatte. Die Bäuerin wirkte nach der Unterhaltung verstört. Hildegund Teufel war also tot. Irgendetwas stimmte heute nicht, stimmte überhaupt nicht. Erst we nige Menschen waren bisher zum Melken erschienen, obwohl die Zeit dafür längst vorüber war und die ersten Tiere bereits riefen. Ihre vollen Euter schmerzten. Auch vom Verrückten und der kleinen Göre war noch nichts zu sehen. Sonst kamen die beiden jeden Morgen pünktlich in den Stall, die Bäuerin sagte ihnen, wo sie die Tiere hinbringen sollten, anschließend trieben sie ihre Herde ins Freie. Heute nicht.
Seit Roland Basler ihm das Bleiben großzügig gestattet und zur Stallarbeit einteilt hatte, hatte sich Hermann Fuchs gut eingelebt. Der Stall war der ideale Standpunkt im Ort. Alles lief hier zusammen, je der, der noch am Leben war, erschien hier irgendwann. Der Stall hatte Kirche und Gasthaus als zentralen Ort für den Austausch von Neuigkeiten längst erfolgreich abgelöst. Ins Gasthaus kam man nur noch, wenn eine größere Versammlung anstand, was momentan nicht der Fall war, und die Kirche hatte traditionell nur sonntags eine Existenzberechtigung. Bubi, von dem Fuchs noch immer nicht hundertprozentig wusste, was er von ihm halten sollte, kam jeden Abend zu Beginn seiner Nacht schicht bei ihm vorbei und erkundigte sich nach dem Stand der Dinge. Manchmal kam auch Kiefer. Aber der hielt sich erstaunlich bedeckt und blieb offensichtlich lieber im Hintergrund. Kiefer und Bubi wollten wissen, ob Fuchs inzwischen eine Möglichkeit gefunden hatte, an Eva heranzukommen. Kiefer drängte und laut Bubi war es nur noch eine Frage von Tagen, dass ihrem Chef der Geduldsfaden riss und er nun doch selbst etwas unternahm. Dies wiederum hätte Fuchs und seine Dienste überflüssig gemacht. Fuchs musste handeln und seit ges tern hatte er nun auch einen konkreten Plan. Er hatte
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