Rattentanz
miteinander flüsterten, während er auf den Knien lag und mit den Fingerspitzen an der Wange der Toten hing. Thomas lächelte. Es kam selten vor, dass die drei flüsterten. Entwe der sprachen sie in normaler Kopflautstärke miteinander oder aber sie schrien sich an (Nummer zwei und Nummer drei). Geflüstert wur de nur in Ausnahmesituationen. Also musste dies eine Ausnahmesituation sein. Der Tod war eine Ausnahmesituation. Sollte es sein. Aber war er es wirklich?
Thomas betrachtete hinter seinen geschlossenen Augen die Parade der Leichen seines Lebens: Großvater und Großmutter, seine Eltern, Beck und nun also auch noch Hildegund Teufel, die alte Frau mit dem wunderschönen Namen. Des Teufels Großmutter. In seinem Leben stellte der Tod (der anderen) keine Ausnahmesituation dar, eher schon Normalität. Die Gestorbenen, die er sah, gingen dem Heer der Leichen voraus, denen er nicht nahegestanden hatte: Dutzende dort oben zwischen den Flugzeugtrümmern und jeden Tag gesellten sich weitere hinzu: Männer, Frauen und Kinder, die diese seltsame Zeit aussortierte. War es wegen ihm? Wenn der Tod eigentlich zu ihm wollte, warum nahm er dann nicht den direkten Weg, kam ins Pfarrhaus, packte ihn und ging?
Oh jaaa, stöhnte Nummer drei bei diesem Gedanken. Seine Todessehnsucht hatte mit Hildegund Teufels Sterben neue Nahrung erhalten. Er soll endlich kommen und uns mit sich nehmen. Gevatter Tod: bitte warte nicht länger. Hol uns, hol uns, hol uns … Aber Thomas ahnte auch, dass er dessen Gedankengänge und Pläne niemals verstehen konnte.
Könntest du doch, wenn du nur auf mich hören würdest! Wollte er alles und jeden um Thomas herum mit sich nehmen, bevor er sich endlich ihm zuwandte? Dann war Hildegund Teufels Tod ein folgerichtiger Schritt auf dem Weg zum eigenen Ableben. Dann wür den alle im Ort ums Leben kommen, nicht nur die ihm Unwich-tigen, sondern auch Eva, der Pfarrer und, Thomas erschrak und riss die Augen auf, auch Lea!
Nein! Leas Tod wollte er nicht verschulden! Wenn der Tod es nur auf ihn abgesehen hatte, sollte er seinen Willen haben. Aber Lea durfte nichts geschehen! Sie war ein Engel, ein zerbrechliches Geschöpf von einem anderen Stern. Ihr durfte einfach nichts passieren. Er verehrte sie, seit sie sich das erste Mal in der Wellendinger Kirche begegnet wa ren. Lea war ein Engel. Sie war so viel mehr und so ganz anders als all die anderen Menschen, die Thomas kannte. Sie verstand ihn, ihn, den Verrückten und seine drei seltsamen Stimmen. Manchmal erzähl te Thomas ihr laut, was Nummer eins, Nummer zwei und Nummer drei in ihm sprachen. Draußen, auf den Weiden, hatten sie alle Zeit der Welt, probierten fremde Blätter und Wurzeln und Lea lauschte voller Faszination dem, was in Thomas’ Kopf vor sich ging. Sie war der einzige Mensch auf dieser Welt, der außer Thomas jemals die Gespräche in dessen Kopf zu hören bekam. Aber sie war ja kein Mensch. Thomas beschrieb ihr den Klang jeder seiner Stimmen. Dies hatte er bisher weder in der Psychiatrie noch gegenüber seinem Arzt – ja, noch nicht einmal vor seiner Großmutter – getan. Er beschrieb den Klang der Stimmen und wie sie sprachen, schnell oder langsam, laut und leise, den Klang hinter dem Klang: Zorn, Ruhe, Ausgeglichenheit, Unruhe, Sehnsucht. Und Lea lauschte, auf dem Rücken im Gras liegend und den Zug der Wolken beobachtend. Sie verstand ihn und manchmal, wenn sie am Abend einsam und ohne den inzwischen schon nicht mehr so schmerzlich vermissten Singsang ihrer Märchen-CDs in ihrem Bett lag, wünschte sie, sie wäre wie Thomas. Denn insgeheim beneidete sie ihn um diese Stimmen. Sie hätte sich die Stimme ihres Vaters gewünscht. Dass sie sich diese schon nicht mal mehr vorstellen konnte, machte sie traurig. Fast einen Monat hatte sie ihn nicht gesehen und seine Stimme bereits vergessen. Sie fühlte sich dafür schuldig und wusste, dass sie ohne die Bilder von ihm, die sie mit ihrer Mutter täglich ansah, auch sein Gesicht längst vergessen hätte.
Lea durfte nichts geschehen!
Du kannst sie retten, sagte Nummer eins. Thomas nahm die Finger vom Gesicht der alten Frau (Nein, lass sie da! Berühre des Teufels Groß- mutter!) und spürte, wie etwas oder jemand seinen Blick auf den Kopf der Toten lenkte.
Du kannst den Engel beschützen, Thomas. Denk an die alten Mär- chen. Großmutter hat sie dir alle erzählt, wenn du bei ihr warst. Erin- nerst du dich nicht mehr? Im Sommer war es, draußen, hinter dem Haus, auf der verwitterten Bank zwischen
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