Rattentanz
Phlox und Jasmin. Du hast den Platz geliebt, Thomas. War es kalt oder das Wetter schlecht, seid ihr auf dem alten Sofa gesessen, du im Arm deiner Großmutter. Die Märchen, Tho- mas, erinnere dich an die Märchen.
Nein, träumte Nummer zwei, vergiss die Märchen. Ich muss Paris se - hen, den Eiffelturm, den Louvre. Wir müssen Paris sehen, bevor, bevor …
… er uns endlich holen kommt, ergänzte Nummer drei und Nummer zwei widersprach nicht. Wir dürfen nicht sterben, ohne in Paris gewesen zu sein. Das könnte ich dir nie verzeihen! Ihre Stimme war tief empfundene Kränkung. Ach, säuselte Nummer drei hinterhältig. Und was ist mit deinem kleinen Engelchen? Heideidei, ist sie süüüß, äffte er ihre Stimme nach. Plötzlich unwichtig, he? Paris, Paris, Paris. Du mit deinem dämlichen Paris! Ich kann es nicht mehr hören! Sterben sollen wir! Und zwar jetzt, sofort! Da, die teuflische Großmutter hat es geschafft, sie ist jetzt glück- lich. Sollen wir etwa warten, bis wir ebenso vertrocknet und stinkend und zahnlos sind wie sie? Der Tod umgarnt die Jugend, liebkost und lockt sie, freut sich auf ihr Kommen und hält einen Ehrenplatz für sie frei. Für uns ist ein Platz reserviert, ein kuschlig warmes Plätzchen in der Ewigkeit satanischer Verdammnis. Oh, wie ich mich freue, freue, freue! Vergiss dein blödes Paris. Jetzt wird gestorben! Weder noch. Nummer eins’ Stimme war die pure Geduld. Thomas: sieh sie dir an und versuch, dich an die Märchen zu erinnern. Sieh hin, Thomas. Erinnere dich und rette uns. Rette Lea! Thomas versuchte, sich zu erinnern. Der Duft seiner Großmutter (Großmutter), ihre Wärme und der Klang ihrer Stimme. In einem verstaubten Regal in der nur an besonderen Feiertagen genutzten Stube stand das Buch. Ein alter Lederband mit altertümlich anmutenden Buchstaben, die er erst viel später lesen lernte.
Großmutter.
Er saß neben Großmutter. Auf ihrem Schoß hielt sie das Buch mit einer Hand und im anderen Arm Lea.
Der Teufel.
Lea durfte nicht sterben. Er wollte nicht schuld sein, wenn ihr etwas geschah, wenn sie traurig war, weinte, Schmerzen hatte. Lea sollte le ben, egal, was dabei aus ihm selbst wurde. Aber wäre es dann nicht kon sequent, dem Drängen seiner inneren Stimme endlich nachzugeben und nicht länger vor dem Tod davonzulaufen? Selbst den Zeitpunkt des Gehens zu bestimmen? Lea so zu retten? Endlich! Du verstehst endlich. Jaaa, nur sterben lässt leben. Gehen wir zum Teufelein, wird das Kind am Leben sein. Hihihi … Und wer soll dann auf sie aufpassen?, fragte Nummer eins. Der Tod wird uns holen, wenn die Zeit dafür reif ist. Aber solange müssen wir auf das Kind achtgeben. Musst du auf sie aufpassen. Unser Freitod kann sie nicht schützen …
Oooch.
Aber wenn du dich an die Märchen erinnerst, wirst du es können. Thomas schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Aber je intensiver er dies tat, desto schwerer fiel es. Die Bilder verschwammen und Menschen tauchten plötzlich in Umgebungen auf, in denen es sie nie gegeben hatte. Joachim Beck, der Polizist, saß mit Thomas’ Eltern an einer Geburtstagstafel und fragte ihn, wie er ihm gefallen habe – der lange Spaziergang an seinem achtzehnten Geburtstag. In der Küche seiner Großmutter hingen Bilder aus Hildegund Teufels Haus und die enge Fahrstuhlkabine im Krankenhaus in Donau eschingen war mit einem brennenden Teppichboden ausgelegt. An glänzenden Metallwänden hingen winzige Bilderrähmchen – alle mit einem Bild Leas. Thomas versuchte, seine Gedanken zu ordnen, die Menschen dahin zu stecken, wo sie seiner Erinnerung nach hingehörten, aber alles wurde nur noch verworrener. Plötzlich roch er Großmutter. Ihre Haut, das Fußpulver und die Rheumacreme, Gewürze und Gartenerde. Dann ihre Stimme – warm, etwas rau und so bekannt: Es war einmal eine arme Frau, die gebar ein Söhnlein, und weil es eine Glückshaut um hatte als es zur Welt kam, so ward …
Thomas erinnerte sich: an diese Stimme, das Haus, an sich und er erinnerte sich an das Märchen: der Mann mit der Glückshaut, der, um seine Liebe zu bekommen, in die Hölle gehen und dem Teufel drei seiner goldenen Haare stehlen musste. Plötzlich konnte er sich an alles er innern. Hätte er sich in diesem Moment an einen Tisch gesetzt und das Märchen aufgeschrieben, so wie er es in seinem Kopf vorfand – er hätte es wortwörtlich wiedergegeben, genau so, wie es im Märchenbuch seiner Großmutter stand. Thomas liefen Tränen über das Gesicht. Er
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