Rattentanz
eingepflanzt hat und hütet wie seinen Augapfel. Ich hoffe, der Tod der alten Frau wirft ihn nicht wieder aus der Bahn.«
Thomas kniete sich neben das schwere Holzbett. Er schlug das Betttuch, mit dem Eva das Gesicht der Toten bedeckt hatte, zurück und be trachtete das fremde Gesicht. Was war es, überlegte er, was war es, das jetzt fehlte? Ihr Gesicht schien noch das gleiche, die vielen Falten, die dünnen Lippen. Das Zimmer war ihm fremd, er hatte es mit dem Beginn ihrer Krankheit zum ersten Mal betreten.
Thomas streckte seine Hand nach Hildegund Teufels Gesicht aus. Er zögerte – als wäre es ein Sakrileg, der alten Frau, die er zu ihren Lebzeiten niemals im Gesicht berührt hatte, so nahe zu sein. Fass sie an, hörte er Nummer eins. Sie würde es wollen, dass du sie so berührst.
Er konnte sich noch gut an den Tod seiner Großeltern erinnern. Thomas’ Hand verschwand in seiner Hosentasche und suchte nach den beiden Knöpfen. Er fand sie und auch seinen Stempel. Trug er die Schuld an ihrem Tod? Thomas sah all die Menschen, die ihm nahegestanden hatten. Wie in einem Film gingen sie an ihm vorüber und waren heute nicht mehr. Zuerst sein Großvater, zu dem er zwar kein besonderes Verhältnis hatte, dessen Tod ihm aber die erste Stimme geschickt hatte. Es war so lange her, dass er sich schon nicht mehr richtig an ihn erinnern konnte.
Danach starb Großmutter und an sie konnte er sich umso deutlicher erinnern. Er wusste nicht nur, wie sie aussah und wie ihre Stim me klang. Nein, er wusste selbst heute noch, wie sie roch. Sie hatte einen angenehmen Geruch, roch nach Wärme. Der Duft, der von ihr ausging, bildete ein Gemisch aus einer billigen Handcreme, Gewürzen und Gartenerde, dem Puder an ihren Füßen und einer Rheumasalbe, die sie seit Jahren benutzte. Ihr eigener Geruch, das, was in ihr war und aus ihr strömte, nahm all die anderen Düfte auf und vereinte sich zum schönsten Parfüm, das Thomas kannte.
Thomas schloss die Augen, zwei Fingerspitzen an Hildegund Teufels Wange, und erinnerte sich an seine Großmutter. Sie trug diesen Namen zu Recht. Sie war eine Groß-Mutter, seine große Mutter. Ihr Duft erzählte von Geborgenheit, war weich und umschmeichelte Thomas, das Kind, das er einmal war und noch immer in sich trug. Als sie gestorben war, hing ihr Duft noch wochenlang in ihrem alten Haus als wartete er hier auf sie, wie ein Hund, der sein Herrchen verloren hat und weiter an dessen Lieblingsplatz auf ihn lauert. Und auf dessen Rückkehr hofft. Vielleicht wartete ihr Duft auch heute noch in dem Haus seiner Großmutter. Thomas aber trug ihn in sich und konnte ihn finden und riechen, wann immer er Sehnsucht nach seiner Großmutter verspürte. Lag es an ihm, dass scheinbar alle Menschen, die ihm nahestanden und ihm etwas bedeuteten, starben? Am Beginn dieser seltsamen neuen Zeit waren seine Eltern ums Leben gekommen und obwohl sie ihm niemals seine Großmutter ersetzen konnten, wa ren sie doch seine Eltern – etwas Einmaliges, das wusste er, etwas, das man sich nicht zurückholen oder ersetzen konnte. Er hatte nicht um sie geweint, aber dies hatte nichts zu bedeuten. Tränen hatten bei ihm nichts mit Trauer oder Freude oder Verzweiflung zu tun. Tränen konnten in den seltsamsten Augenblicken kommen, aber komischerweise nie dann, wenn andere Menschen es von ihm erwarteten. Dann war auch noch der Polizist gestorben. Thomas wusste, dass Joachim Beck ihn mehr als einmal am liebsten irgendwo zwischen Donaueschingen und Wellendingen zurückgelassen hätte. Trotzdem vermisste er ihn, etwas jedenfalls. Beck hatte ihn schließlich aus seinem Aufzuggefängnis befreit und hierhergebracht. Er hatte ihm viel Gutes getan. Ob er es gern getan hatte, spielte keine Rolle, wichtig war einzig das Ergebnis. Wahrscheinlich hatte er es nur für Eva getan. Aber das interessierte Thomas nicht. Waren die Beweggründe einer guten Tat auch egoistisch oder eitel oder gierig, vielleicht sogar böse, dachte Thomas, was zählte, war das Ergebnis. Und der Polizist hatte gute Ergebnisse erzielt. Bis ihn das Böse dort oben, wo die Flugzeugtrümmer lagen, gefunden hatte und in einem wehenden Mantel verkleidet über ihn hergefallen war. Das Böse lauerte überall. Thomas wusste, dass man sich vor ihm in Acht nehmen musste. Das Böse kam und kam und kam – solange, bis es sein Opfer in einem unbeobachteten Augenblick von hinten anfallen und zerreißen konnte. Dies war das Naturell des Bösen, das sagten ihm auch seine drei Stimmen, die
Weitere Kostenlose Bücher