Rattentanz
nannte.
Sie hatte Thomas vom ersten Augenblick an gemocht, er war ein guter Junge, vielleicht zu gut für dieses Leben. Hoffentlich passten die anderen auf ihn auf. Er brauchte Schutz und er brauchte Menschen, die ihm das Leben erklärten.
Dann war das letzte bisschen Kraft aufgebraucht. Das alte Herz kam ins Stolpern und fand seinen Rhythmus nicht wieder. Es wurde langsamer und langsamer als könne es sich, nach so unendlich langer Zeit und so vielen Schlägen, nur schwer zum Stillstand entschließen. Aber es kam zum Stillstand und Hildegund Teufel wunderte sich, wie leicht alles ging. Und sie wunderte sich über das Geschenk des Lebens und über das Geschenk des Todes.
Am späten Nachmittag ließen Bubi Faust, Jürgen Mettmüller, Markus Thoma und Thomas Bachmann den leichten Leichnam in die von Bardo Schwab ausgehobene Grube hinab. Särge wurden schon lange nicht mehr benutzt. Am Kopfende ihres Grabes stand Pfarrer Kühne und besprengte die Verstorbene mit Weihwasser. Ihr in Laken gewickelter Körper sank in die Tiefe. Thomas ließ den neben ihm stehenden Jürgen Mettmüller nicht aus den Augen und versuchte, dessen Bewegungen genau zu imitieren. Er wollte nichts falsch machen. Die fast übermenschliche Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, Eva zu bitten, die Tote mit zum Friedhof tragen zu dürfen, war ihm noch immer im Gesicht abzulesen. Thomas hatte Eva gefragt und sie wieder um die Männer vor Hildegund Teufels Haus. Keiner hatte gelacht oder auch nur in Erwägung gezogen, Thomas’ Bitte abzuschlagen. Jeder im Ort wusste, dass Thomas in der kurzen Zeit, die er erst im Dorf war, eine besondere Beziehung zu der Alten aufgebaut hatte und es ihm offensichtlich wirklich wichtig war, sie zum Friedhof zu begleiten, auf einem breiten Brett, das fast schwerer war als die Frau darauf. Der Pfarrer betete laut und die meisten beteten mit ihm. Wieder war jemand gegangen, wieder musste man an einem Grab stehen. Wer, fragten sich viele, würde der Nächste sein?
»Amen.« Jakob Kühne bückte sich. Wie leicht ihm dies plötzlich fiel … Er hatte in den vergangenen Wochen den Gürtel seiner Hose drei Löcher enger stellen können und langsam tauchten aus dem verbrauchten Körperfett seine wahren Konturen auf. Fräulein Guhl hatte alle Hände voll zu tun, seine Kleider enger und enger zu nähen. Kühne hielt eine kleine Schaufel in der Hand und betrachtete lange die Menschen, die wiederum alle zu ihm herüber sahen. Kaum einer der Lebenden fehlte. Sattlers Sohn, fiel ihm auf, war nicht da und ein paar, von denen er wusste, dass sie krank in ihren Häusern lagen. Was hätte Sattlers Sohn hier auch gesollt, dachte Kühne, er kannte die Alte kaum. Kühne warf ein wenig Erde auf Hildegund Teufel. Dann trat er zur Seite. Roland Basler, der unaufgefordert nach vorn getreten war und es als sein natürliches Recht ansah, unmittelbar nach dem Pfarrer Erde in das Grab zu streuen, streckte seine Hand aus. Aber der Pfar rer ignorierte Baslers wartende Rechte und gab die kleine Schaufel Thomas. Er hatte Thomas oft beobachten können, wohnte der doch in seinem Haus. Kühne hatte Thomas’ Aufregung bemerkt, machte der sich zur alten Teufel auf den Weg. Ebenso seine Zufriedenheit nach einem Besuch bei ihr oder seine Trauer, wenn dies wegen einer Ratssitzung nicht möglich war. Thomas nahm die Schaufel, ganz langsam. Dass der Pfarrer ihn, ei nen Verrückten, dem Bürgermeister vorzog, verwirrte ihn. Er hielt die Schaufel wie ein Schild vor der Brust und wusste nicht, was zu tun sei. Schließlich nahm ihn Kühne am Handgelenk und führte seine Hand zum Aushub neben dem Grab, dann darüber. Langsam rieselte schwarze Erde auf Hildegund Teufels Körper.
Schwupp, weg ist sie.
Thomas gab die Schaufel an Lea weiter. Er war traurig wie seit Millionen Leben nicht mehr. Traurig für vier. Von Lea wanderte die Schaufel zu Eva, Eva gab sie Eckard Assauer und der sie an Roland Basler weiter, der hinter ihm wartete. Nach ihm kam Eugen Nussberger, dann der Krone-Wirt und schließlich Susanne Faust. Susanne tat es den anderen nach und warf ein wenig Erde in das frische Grab. Ihre Blicke folgten den Krumen. So endete also alles, schien sie zu denken. Eva nahm ihr die Schaufel aus der Hand. Plötzlich ging Susanne durch die Wartenden zum Pfarrer.
»Warum lässt Gott das zu, Herr Pfarrer?«
Jakob Kühne, der sich mit Bea Baumgärtner über den beginnenden Mangel an Kochsalz unterhielt, brach mitten im Satz ab. Susanne wartete auf seine Antwort, ihr
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