Rattentanz
einmal so genannt hatte. Sie durchquerten die Dübener Heide, passierten Bitterfeld und erreichten am vierten Tag nach Verlassen der Kiesgrube die Autobahn bei Brehna.
Von da an ging es zügiger.
Am dritten Tag auf der Autobahn, Samstag dem 23. Juni, trafen sie auf den Mann, der sich selbst als glücklichsten Mann der Welt bezeichnete, ein Zusammentreffen, auf das sie im Nachhinein liebend gern verzichtet hätten.
Die kleine Karawane hatte die Nacht auf einem der vielen Autobahnparkplätze verbracht. Sie waren problemlos zwischen Halle und Leipzig hindurchgekommen. Die Namen der Autobahnabfahrten und die Anzahl der liegen gebliebenen Fahrzeuge und Leichen auf ihrem Weg erzählten ihnen von der Entfernung zur nächsten Großstadt. An manchen Stellen versperrten Unfälle die Fahrbahn auf ihrer gesamten Breite und zwangen sie, die Straße kurz zu verlassen, die Stelle zu umgehen und hundert Meter weiter wieder auf die Autobahn zurückzukehren. Aber zum Glück waren diese Umwege selten, kosteten allerdings ordentlich Zeit und Kraft. Der Schwarze musste von seiner Last befreit und zu einem Sprung über die Leitplanke motiviert werden. Silvia zeichnete sich dabei besonders aus, wahrscheinlich wäre es ohne sie bereits am ersten Unfall mit der bequemen Reise auf Deutsch lands Autobahnen vorbei gewesen. Silvia aber hatte ein besonderes Gespür für das Tier.
War der Schwarze endlich auf der anderen Seite der silbernen Begrenzung, folgte der beräderte Schlitten, danach Hans. Ab und zu trafen sie andere Reisende. Die meisten von ihnen konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. Es waren aber auch Gruppen darunter, die ganz offensichtlich Glück gehabt hatten. Mager, wie fast alle heutzutage (sie trugen noch immer die inzwischen viel zu wei ten Kleider aus der Vorzeit), gingen sie dennoch zügig an ihnen vorbei. Es herrschten Misstrauen und Angst und so bildete in der Re gel ein kurzes Nicken den einzigen Gruß zwischen beiden Parteien. Es kam aber auch vor, dass man kurz anhielt und Neuigkeiten austauschte. Woher und Wohin, wie sieht es da aus und wie dort? Wisst ihr, was geschehen ist? Habt ihr Neuigkeiten aus Berlin, gibt es unsere Regierung noch? Habt ihr was zum Tauschen?
Am Nachmittag hatten sie so erfahren, dass zwei Autobahnbrücken bei München nicht mehr existierten (von Gott weiß wem gesprengt), dass vor fünf Tagen noch selbsternannte Zollbeamte die Stra ßen um Nürnberg kontrolliert hatten und dass Hans und seine Freunde ein bestimmtes Dorf in Franken lieber nicht besuchen sollten, denn dort hatte die andere Gruppe die beiden Kühe ausgeliehen, die ihren Wagen zogen. Außerdem sei ein Stück Autobahn südlich von Schleiz praktisch nicht mehr vorhanden. Aber wenn sie die Abfahrt Schleiz nähmen und an der Bleilochtalsperre vorbei nach Süden gingen, könnten sie sich die Sucherei der anderen Gruppe sparen und oh ne deren Zeitverlust in Lobenstein zurück auf die Autobahn. Sie tauschten ein paar ihrer Kartoffeln gegen zwei Liter Milch in Plastikflaschen, wünschten sich gegenseitig Glück und eine gute Reise und zogen weiter, die einen nach Norden, Silvia, Hans, Henning Malow und Larissa nach Süden.
Sie passierten Gera (mehr Leichen), dann stieg die Straße langsam empor und schickte sich an, das Vogtland zu durchqueren, bevor Bayern erreicht war. Kurz vor der früher undurchdringlichen, heute nur noch von Kenneraugen auffindbaren Grenze zwischen Ost-und Westdeutschland mussten sie, wie von der nach Norden ziehenden Gruppe angekündigt, die Autobahn verlassen. Sie hatten die Abfahrt Schleiz passiert und waren, da sie vor sich ein kilometerlanges, intaktes As phaltband sahen, schließlich auf der Autobahn geblieben. Nach fünf Kilometern mussten sie ihren Fehler einsehen und umkehren. Von den beiden riesigen Raststellen, die hier einmal den immer hungrigen Lindwurm der Reisenden mit Benzin, Essen, Trinken und Toiletten versorgten, waren nicht einmal mehr Ruinen übrig. Beide Tankstellen waren in die Luft geflogen – gewaltige Explosionen, welche die Fahrbahnen in ein mehrere Hundert Meter langes Gewirr aus Asphaltplatten, Erde, zerrissenen und ausgebrannten Fahrzeugen und Felsbrocken verwandelt hatten. Ein Durchkommen war hier unmöglich, eine Umgehung aufgrund der Topografie ebenfalls. Also gingen sie zurück und nahmen den Weg, den sie schon eineinhalb Stunden zuvor hätten nehmen sollen. Am späten Nachmittag erreichten sie die Bleilochtalsperre und mit ihr den Glücklichsten Mann der Welt.
Die
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