Rattentanz
Bleilochtalsperre ist mit ihren zweihundertfünfzehn Millionen Kubikmetern Fassungsvermögen die größte Talsperre Deutschlands. Der achtundzwanzig Kilometer lange Stausee windet sich zwischen be waldeten Hängen. Als sie aus dem Wald traten, fiel ihnen sofort ein Mann auf, der aufgeregt auf der fünfundsechzig Meter hohen Sperrmauer herumturnte. Am anderen Ende der über zweihundert Meter breiten Mauer stand ein Lastwagen, von dem er Pakete lud und auf die Mauer schleppte.
Auf ihrer Seite der Mauer befand sich ein einzelnes Haus. Es stand auf einem kleinen Hügel. Es überragte seine Umgebung und war offensichtlich seit Jahren unbewohnt. Das Ziegeldach besaß einen beachtlichen Knick und die Fenster mussten ganzen Heerscharen als Ziel gedient haben: keines besaß mehr als einige winzige Glasreste. Die von Schimmel und Salpeter fleckigen Hausmauern hatten dieselben Heerscharen mit bunten Graffiti beschmiert.
Hans bat um eine Rast. Wie jeden Tag war auch heute sein Bein durch die tiefe Lage während des Transportes erneut angeschwollen. Auch konnte er Larissa kaum noch bändigen. Also erlösten sie den Schwarzen von seiner Last und Silvia führte ihn ins Wasser. Sein Schnau ben und Wiehern erregte die Aufmerksamkeit des Sperrmauertänzers. Er richtete sich auf, beschattete die Augen mit der Hand und betrachtete die Reisenden. Plötzlich ließ er die angefangene Arbeit Arbeit sein und rannte den Neuankömmlingen entgegen. Der Glücklichste Mann der Welt war eine seltsame Erscheinung. Blond und vielleicht Mitte vierzig, wahrscheinlich jünger, ließ ihn aber der graue Bart älter aussehen. Er trug nichts, bis auf ein Paar viel zu weite Boxershorts, und die Sonne hatte seine früher sicher blassen Schultern verbrannt. Er aber schien die Hautfetzen und das glühende Fleisch nicht zu bemerken, die Hitze, die in ihm brannte, war weit stärker. Um den Hals trug er ein Gewirr verschiedenster Ketten: Gold glitzerte in der Sonne neben einer meterlangen, dreimal um seinen dürren Hals gewundenen Perlenschnur. Daneben trug er Amulette an Lederbändern und – Silvia nahm sofort Larissa auf den Arm und versteckte sich hinter Malow – ein Band, an dem er eindeutig menschliche Ohren aufgefädelt hatte. Ohren unterschiedlichen Alters. Ganz rechts, wahrscheinlich das erste seiner bizarren Sammlung, hing ein kleines, vertrocknetes Ding, ganz links ein Ohr, das gestern wohl noch fest mit seinem eigentlichen Besitzer verbunden gewesen war. Dazwischen drei weitere Trophäen unterschiedlichen Mumifizierungsgrades. Der Mann kam barfuß über den Kiesstrand gesprungen und wedelte mit beiden Armen.
»Und?«, rief er. »Gefällt sie euch?«
Hans hielt sein Messer griffbereit, Malow das Gewehr.
»Die Talsperre?«, fragte Malow. »Ganz nett.«
»Ach was!« Der Fremde stand inzwischen unmittelbar vor Malow. Obwohl von seinem kurzen Spurt ganz außer Atem, lächelte er und schien sich über die Gäste zu freuen. Seine Augen leuchteten irgendwo zwischen Kraft und Wahnsinn. Mit gebeugtem Oberkörper blieb er stehen, die Arme pendelten wie zwei Gewichte. »Talsperre, Talsper re, Talsperre! Hier redet niemand mehr über eine Talsperre!« Er mach te einen weiteren Schritt auf Malow zu und versuchte an ihm vorbei die anderen Neuankömmlinge in Augenschein zu nehmen. Ma low aber versperrte ihm die Sicht. »Also komm, sag doch endlich. Wie gefällt sie euch?«
»Was, verdammt noch mal?«
»Die Welt natürlich! Unsere schöne, neue Welt!« Er wandte sich ab, breitete die Arme aus und richtete sich auf. »Ist sie nicht herrlich? So habe ich es mir immer gewünscht – eine Welt ohne Menschen. Oder fast ohne, denn ganz ohne Menschen wäre es auch langweilig.« Er nahm seine alte Haltung wieder ein und sprach nun erneut direkt mit Henning Malow. »Aber so wie es jetzt ist, passt es perfekt. Stellt euch vor, ich habe seit vorgestern keine Lebenden mehr gesehen, ist das nicht herrlich?«
»Wie man’s nimmt«, sagte Malow. »Auf manche Zeitgenossen könn te man tatsächlich problemlos verzichten!«
Der Fremde überhörte die Anspielung, kratzte sich an der Schulter und zog dabei einen breiten Streifen Pergamenthaut ab. Der Wind trug die Haut auf den See. »Die Welt ist so wunderschön«, schwärmte der Fremde. »Die Menschen sind verschwunden, jetzt müssen nur noch ihre Bauwerke weg. Wart ihr zufällig auf der Autobahn?« Malow nickte. »Gut, nicht? Die Raststelle. War ich. War ganz leicht, kinderleicht. Nur eine Zündschnur, ein Streichholz, habt
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