Rattentanz
auch noch so abartig. Willst du etwa jeden, der nicht ganz klar in der Birne scheint und damit eine poten-zielle Gefahrenquelle darstellt, willst du jeden erschießen? Wir hätten viel zu tun und kämen wahrscheinlich nie in den Schwarzwald.«
»Aber bei dem hier weiß ich, was er plant. Ich bin praktisch beteiligt!«
»Was sagst du, Hans? Sollen wir zusammenpacken und verschwinden – was sehr vernünftig wäre – oder sollen wir den Kerl bitten, seine Pläne zu ändern?«
Hans Seger betrachtete abwechselnd Larissa, die Staumauer und seine Begleiter. Silvia hatte recht, Hunderte Unschuldige würden sterben, auch viele Kinder wie Larissa. Wie Lea.
»Hab’s verstanden«, sagte Malow. Er drückte Silvia die Zügel in die Hand, packte sein Gewehr. »Scheiße«, murmelte er. »Scheiße, Scheiße und nochmals Scheiße!«
»Pass auf dich auf.«
Henning Malow ging zur Staumauer. Hatte er Lena in Schweden zurückgelassen, um hier Verrückten hinterherzujagen? Das Beste war, sich von allen Menschen fern-und aus allen Dingen herauszuhalten. Hätten sie sich mit dem Kerl, überlegte er, während er einen ersten Schritt auf die Mauer setzte, hätten sie sich mit dem Kerl gar nicht erst unterhalten und so auch nichts von seinen Plänen erfahren, wäre dieser ganze Kack überhaupt nicht entstanden. Wissen belastet. Wissen bringt Verantwortung, Entscheidungen, Taten. Gesegnet seien die Unwissenden.
Zwischen Malow und dem Glücklichsten Mann der Welt lagen nur noch zwanzig Meter, als der ihn bemerkte. Er war gerade damit beschäftigt, einen Wust Drähte zu sortieren und entsprechend seiner Pläne zu verbinden. Überall lagen Schnüre und Drähte und Sprengladungen auf der breiten Mauerkrone herum, ein Ding der Unmöglichkeit, hier Ordnung und System zu erkennen. Plötzlich hielt der Glücklichste Mann der Welt in seiner Arbeit inne und drehte sich zu Malow um. Malow blieb mitten im Drahtgewirr stehen. Zwei Sekunden musterte der Fremde Malow, vielleicht versuchte er die Ursache von Malows Besuch zu ergründen, dann richtete er sich auf, ließ die Drähte fallen und rannte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
»Halleluja!«, schrie der Glücklichste Mann der Welt. Die umliegenden Berge warfen seinen Schrei dutzendfach zurück und für einen Moment war das Tal von den langsam schwächer werdenden Jubelrufen erfüllt. »Sie hatten eine Erkenntnis, richtig? Es ist nie zu spät, zur Natur zurückzukehren! Wissen Sie, Mutter Natur ist geduldig. Kommen Sie!« Er winkte Malow zu sich, bückte sich und hielt ihm die Drähte entgegen. »Kommen Sie, packen Sie mit an! Gemeinsam werden wir bis zum Sonnenuntergang alles erledigt haben. Es wird ein fantastischer Sonnenuntergang – rot und heiß und mit vielen befreienden Explosionen und den wilden Wassern der Erkenntnis! Heiliges Wasser wird die Welt läutern und alles Menschliche hinwegspülen. Hier, nehmen Sie den Draht. Los!«
Malow aber blieb ohne ein Wort zu erwidern vor dem Glücklichsten Mann der Welt stehen. Mit wenigen Blicken hatte er die Zahl der Sprengstoffpäckchen überschlagen. Es mussten an die einhundert sein. Mindestens. Hier, auf der Mauerkrone, lagen immer im Abstand von zwei, drei Metern Sprengladungen. Und das dicke Bündel der über das Geländer hängenden Zündschnüre ließ nur erahnen, was der Glücklichste Mann der Welt dort noch angebracht haben musste. Wer wuss te, was sich noch am Fuß der Mauer befand. Die Zündschnüre hingen über die Brüstung und fielen ins Nirgendwo.
Der Glücklichste Mann der Welt hielt Malow noch immer die Dräh te entgegen. Warum nahm der sie nicht? Warum zögerte er? »Eigentlich bin ich Friseur, wissen Sie. Besser: ich war einmal Friseur. Aber ich bin nicht schwul. Denken alle, wenn man sagt, dass man anderen die Haare schneidet und wäscht und den Kopf massiert. Nein, nein, schwul bin ich ganz bestimmt nicht. Aber das hier ist besser!
Viel besser! Es ist Wahrheit und Erleuchtung und …«
»Leg das weg!«, befahl Malow. Er kam einen Schritt nach vorn, hielt dem Fremden die Mündung der Waffe in das vor Begeisterung und Sonne gerötete Gesicht. »Aufstehen! Und leg diesen ganzen verfluchten Scheiß weg!«
Der Glücklichste Mann der Welt schien nicht zu verstehen. Schien, wohlgemerkt. Denn er hatte sehr wohl verstanden. Die empfangene Bot schaft lautete: dieser ungläubige, alte Bastard, der sich da angeberisch mit Waffe und einer grauenvollen Frisur vor ihm aufgebaut hat te, wollte ihn (Ihn!) an seiner Mission hindern! He,
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