Rattentanz
ihre Tochter zusammengerollt neben dem Feuer lag und schlief. Der Glücklichste Mann der Welt hatte sie mit einem dünnen Stück Stoff zugedeckt, bevor er auf die Mau er ging.
Ein Bein auszustrecken kostete Silvia schier übermenschliche Anstrengungen. Aber sie schaffte es. Sie tastete mit dem Fuß nach dem Seil, an dem Larissa hing. Als sie dabei einige Kiesel zur Seite schob, verstummten die Geräusche aus dem Wald. Aber das war nur ein kurzer Hoffnungsschimmer. Unmittelbar darauf setzten sie mit unverminderter Intensität wieder ein. Silvia fand das Seil. Sie musste Larissa beschützen. Etwas Unbekanntes bedrohte ihre Tochter und sie war Mutter und musste sie beschützen. Behutsam, ganz leise fuhr sie mit den nackten Zehen unter dem Seil hindurch, hob es an und drehte ihr Bein so, dass sich das Seil einmal um ihre Wade wand. Dann winkelte sie ihr Bein an, bis sie einen Widerstand spürte. Wie eine Nabelschnur spannte sich das Seil zwischen ihrem Fuß und dem Kind.
Die Geräusche in ihrem Rücken kamen näher, aber es war unmöglich, Entfernungen und eine genaue Richtung einzuschätzen. Würde doch endlich einer der Männer erwachen! Aber von Hans und Malow konnte sie augenscheinlich keine Hilfe erwarten. Beide schliefen tief und Silvias Angst, durch Rufe eine unbekannte Lawine loszutreten, war größer als ihr Wunsch, sie zu wecken.
Die Frage, was sie unternehmen wollte, wäre Larissa erst bei ihr, stellte sich Silvia nicht. Sie konnte ihr Kind nicht in die Arme neh-men, nicht vor dem Unbekannten beschützen oder davonlaufen. Aber Larissa war in Gefahr!
Sie zog, so vorsichtig sie nur konnte, am Seil. Alles schmerzte – Schultern, Handgelenke, ihr Gesäß, jetzt auch noch ihr Fußgelenk. Sie spürte, wie etwas nachgab und über den Kies rutschte. Hoffentlich wird sie nicht wach, dachte Silvia.
Plötzlich ein lautes Quieken unmittelbar neben ihr, dann trampelte etwas über den Strand. Gleichzeitig prallte etwas gegen den Baum, an dem sie gefesselt saß. Silvia spürte Haare über ihren Unterarm streichen. Nein, es war eher ein Kratzen, ganz kurz nur. Jetzt zog Silvia so stark sie nur konnte am Seil und Larissa zu sich heran. Das Kind wurde wach. Sofort begann es zu schreien. Die Schreie des Kindes wirkten wie eine Sirene. Mit einem Schlag tobte der Wald. Überall hinter Silvia Getrampel und Grunzen. Die Män ner wurden wach, setzten sich auf, Silvia schrie aus Leibeskräften – sie wollte das Fremde vertreiben, die Bedrohung, die zu ihrem Kind wollte.
Larissa lag auf dem Rücken zwischen den Beinen ihrer Mutter, strampelte und schrie und ein Schatten rannte aus dem Wald, über den Kies. Gleichzeitig entfernten sich die Geräusche hinter Silvia. Sie trampelten davon.
»Wildschweine«, rief Malow.
Er hatte recht. Angelockt vom Geruch des Fleisches, hatte sich eine Rotte Wildschweine über die vergrabenen Reste des Schwarzen hergemacht. Es dauerte lange, bis sich Larissa beruhigte. Silvia streichelte sie mit ihren rauen Fußsohlen.
»In zwei, drei Tagen werden sie sich über unsere Reste hermachen«, sagte Malow.
»Es muss doch eine Möglichkeit geben, von hier wegzukommen.«
»Reiß den Baum raus, an dem du sitzt, und lauf davon«, meinte Ma low sarkastisch.
»Wir können doch nicht hier sitzen bleiben! Sollen wir uns gegen seitig beim Sterben beobachten? Wer wird der Letzte sein? Werden die Wildschweine zurückkehren? Interessieren sie sich nur für Tote oder auch für die Lebenden?«
»Vielleicht tötet er uns ja vorher«, sagte Malow.
»Aber ich will das nicht.«
99
25. Juni, 21:23 Uhr, Bleilochtalsperre
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Bei Sonnenuntergang hatte der Glücklichste Mann der Welt seine Arbeit fast erledigt.
Hinter ihm lag wieder ein wundervoller Tag, makellos und rein. Über zwei Wochen hatte es schon nicht mehr geregnet und die Saale, der Fluss, der die Talsperre speiste, bildete nur noch ein trauriges Rinnsal. Aber das sollte sich heute ändern. Heute war der 25. Juni – der Tag der großen Explosion.
Hans, Silvia und Malow saßen jetzt schon den zweiten Tag in einem Keller. Larissa genoss das zweifelhafte Privileg, angebunden auf der Staumauer zu sitzen und den Glücklichsten Mann der Welt bei seiner Arbeit beobachten zu dürfen. Er hatte die Erwachsenen nach dem Besuch der Wildschweine zu dem einzelnen Gebäude geschleppt, das auf einem kleinen Hügel neben der Staumauer thronte. Einen nach dem anderen hatte er sie durch eine aus den Angeln gehobene Tür geschubst und eine von Feuchtigkeit glänzende
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