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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Steintreppe hinabgeführt. Silvias Weinen und Flehen waren Musik in seinen Ohren. Ihr neues Gefängnis war ein niedriger Gewölbekeller. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm. Von den Wänden sickerte Wasser und sammelte sich in einer flachen Rinne. Diese Rinne führte einmal im Quadrat an den Wänden entlang und mündete in einer Ecke des Kellers in einem kaum armdicken Loch. Licht drang nur durch zwei schma le Fensteröffnungen zu ihnen herab. Beide Öffnungen befanden sich etwas über zwei Meter oberhalb des Lehmbodens, unmittelbar unter der Decke. Durch sie verirrten sich erst am Abend ein paar Sonnenstrahlen in das Gefängnis. Vor wenigen Minuten waren die Strahlen verschwunden.
    Der Glücklichste Mann der Welt hatte ihnen in seiner grenzenlosen Güte alle Kleidungsstücke und Decken, die er in ihrem Gepäck gefunden hatte, hinabgeworfen. Die Holztür hatte er von außen abgesperrt und – so sehr vertraute er dem altersschwachen Riegel nun doch nicht – zusätzlich mit einem Balken gesichert. Ob und, wenn ja, welche Pläne er mit ihnen hatte, verschwieg er. Bei seinen kurzen abendlichen Besuchen beschränkte er sich darauf, etwas Fleisch des Schwarzen durch die Fenster zu werfen und von seiner Berufung zu schwärmen. Die Anspannung der vergangenen Tage stand dem Glücklichsten Mann der Welt dabei ins Gesicht geschrieben. Er schlief kaum noch und von Sonnenauf-bis zu ihrem Untergang arbeitete er an seinem Projekt »Freiheit für die Wasser der Welt«. So lange die Sonne schien waren seine Gefangenen für ihn vergessen, erst am Abend kam er von der Staumauer zurück – erschöpft, seine Hände bluteten, aber die Augen strahlten. Dies war die Aufgabe, die seinem Leben endlich einen Sinn gab, die auch die Katastrophe des 23. Mai mit Sinn erfüllte. In seinen Augen hatte alles seine Richtigkeit. Er war das Werkzeug von Mutter Natur und so glücklich wie noch nie. Längst hatte er den kleinen Frisiersalon vergessen, Scheren und Shampoos, fettiges Haar, Schuppen und die sinnentleerten Gespräche über das Wetter. Vergessen auch die Kinder der Nachbarschaft und all die Hühneraugen seiner Kundschaft. Das Fleisch, das er ihnen in den Keller warf, war zäh und ohne Salz kaum genießbar.
    Hatte er die beiden Männer und die Frau versorgt, kümmerte er sich zärtlich um das Kind. Für Larissa kaute er etwas Fleisch vor und fütterte sie anschließend wie einen kleinen Vogel.
    »Bist ein süßer kleiner Piepmatz«, sagte er.
    Larissa schien den Fremden zu mögen. Sie kletterte inzwischen schon auf seinen Schoß und spielte mit den Ketten um dessen Hals, am liebsten aber mit der Ohrensammlung.
    »Ohren sind wichtig, mein Vögelchen. Du musst hören, weißt du. Wer nicht hören will, muss fühlen heißt es. Deswegen ist auch alles kaputtgegangen, weil niemand hören wollte. Aber jetzt ist es zu spät, mein Kind. Jetzt nützt alles Jammern und Bereuen nichts mehr, denn Mutter Natur hat entschieden und dem ganzen Firlefanz ein Ende gemacht. Jetzt müssen nur noch die Details in Ordnung gebracht werden, von Jüngern wie mir.« Er spuckte ein besonders zähes Stück Fleisch aus, gierig streckte Larissa die kleinen Arme danach aus. Überall waren Fliegen.
    »Nein, nein, meine Kleine, das ist nicht für dich. Hier, nimm das. Ist jetzt schön weich«, und er steckte ihr den Finger, an dem zerkaute Fleischfasern klebten, in den Mund. Larissa saugte und war zufrieden.
    »Es gibt bestimmt noch mehr Jünger wie mich«, fuhr er fort. »Wir werden uns in einer anderen Welt zusammenfinden und ein ganz neues Leben beginnen. Mutter Natur wird uns führen. Sie weiß Bescheid und sagt uns, was wir machen müssen. Auch du könntest einmal ein Jünger werden, obwohl«, er lachte, »bis du alt genug bist, haben wir bestimmt schon alle Wasser befreit und alle Brücken gesprengt und all das giftige Öl und Benzin vergraben. Öl gehört tief unter die Erde, da wo es Mutter Natur vergraben hat. Sie wird sich was dabei gedacht haben als sie es dort versteckte. Wenn es gut wäre, Öl zu verbrennen und in die reine Luft zu pusten, hätte sie es selbst erledigt. Die Menschen waren sehr dumm, kleiner Vogel. Aber damit ist es jetzt vorbei. Ja, iss du nur, musst groß und stark werden.« Aber Larissa war satt.
    Der Glücklichste Mann der Welt ignorierte all die Bitten und Drohungen seiner Gefangenen. Weder wollte er der Mutter ihr Kind zurückgeben noch Freigänge erlauben oder ihnen Wasser bringen. Und so waren sie gezwungen, ihren Durst von dem Wasser

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