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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Grund ihres Kommens. »Mutter Natur will euch nicht als Opfer. Das habe ich erkannt. Nie würde sie wollen, dass ich ihr die Unschuld eines Kindes opfere. Wäret ihr drei allein, hätte ich keinen Augenblick gezweifelt. Aber das Kind … Ein Kind darf nicht geopfert werden, das weiß ich genau! Aber warum ist dann das Pferd nicht allein gekommen, wenn es nur um Fleisch ging? Das ist die entscheidende Frage und gestern Abend, als ich von der Mauer zu euch herüberschaute, wusste ich plötzlich die Antwort! Und ich bin so dankbar, sie gefunden zu haben.« Er drehte sich um, dem See zu, und fiel auf die Knie. »Mutter Natur will mich«, flüsterte er, noch immer auf den Knien.
    »Wie bitte?«
    »Sie will mich zu sich holen!«, schrie der Glücklichste Mann der Welt und sprang auf die Füße. Jetzt war er wieder krank, verrückt. Seine Augen leuchteten wie im Fieber. In beiden Händen hielt er Kieselsteine, Erde und Gras. Er streckte sich und hob die Hände hoch über sein zum Himmel gewandtes Gesicht. Dann spreizte er die Finger und Steine, Erde und Gras fielen auf seine Stirn, Augen, seine verbrannten Schultern. Er genoss den Regen, ward eins mit sich und seinem Glauben und der erwarteten Erlösung. »Mutter Natur will ihr Kind zu rück – sie will mich zurück. Es ist so einfach, wie vor zweitausend Jahren schon einmal. Es soll ein Opfer geben – mich – und es soll Zeugen geben – euch. Deshalb hattet ihr auch das Vögelein dabei, damit ich den wahren Willen von Mutter Natur erkenne. Oh, wie klug sie ist, wie vorausschauend und gütig.« Wieder fiel er zu einem Stoßgebet auf die Knie. »Ich soll das Wasser befreien und ich werde das Opfer sein – ein Märtyrer, um den sich Legenden und Erzählungen ranken. Ihr werdet es alle mit eigenen Augen sehen. Ihr sollt die künftigen Zeugen meiner Person und meines Tuns sein. Mutter Natur wünscht, dass ihr es seht und in die Welt hinaustragt. Ihr sollt Zeugnis ablegen über die Größe unserer Allmutter und über den unwürdigen Mann, den sie auserwählt hat, ihre Pläne zu erkennen. Ich bin unwichtig, aber ich bin es, durch den sie sich den Menschen offenbart. Meine Befreiung des Wassers wird, dank eurer Erzählungen, noch in Tausenden Jah ren allgegenwärtig sein. Dieser Tag wird der Ausgangspunkt einer neuen Weltreligion sein. Man wird sich zu Gottesdiensten auf Waldlichtungen treffen und dort Mutter Natur und den Sohn, der sich heute für alle Übriggebliebenen opfern wird, anbeten.«
    »Wenn wir nun niemandem etwas erzählen? Was dann?«, fragte Malow.
    »Still!«, zischte Silvia. Was musste Malow diese Frage stellen?! Er würde alles kaputt machen!
    Aber der Glücklichste Mann der Welt ließ sich nicht beirren. Zu tief saß sein Glaube. Wissen füllte ihn aus und dieses Wissen konnte ein dummer alter Mann nicht ins Wanken bringen.
    »Ihr werdet erzählen, wenn Mutter Natur es will. Will sie es nicht, werdet ihr schweigen, so einfach ist das. Aber ihr werdet sprechen und Zeugnis geben. Sie will es so und ihr seid nur Werkzeuge.«
    Er winkte Larissa ein letztes Mal zu.
    »Und was wird aus uns?«, rief Malow, als der Glücklichste Mann der Welt ohne ein weiteres Wort wegging. »Sollen wir hier verhungern?«
    »Bitte, lassen Sie uns frei! Wenn Sie es schon nicht für uns tun, ma chen Sie es für meine Kleine.«
    Aber der Glücklichste Mann der Welt ging weiter.
    »Geben Sie mir mein Kind!«
    Er hörte nur den Lockruf seiner Göttin.
    Silvia kletterte auf Malows Schultern. Sie streckte beide Arme aus der schmalen Öffnung, bekam Gras zu fassen. Sie riss es aus und warf es dem Glücklichsten Mann der Welt hinterher. »Gib mir mein Kind!«
    Die Gefangenen zu befreien hieße, sich der Zeugen zu berauben, die alles der Nachwelt berichteten. Natürlich würden sie sofort im Wald verschwinden und sein bevorstehendes Opfer bliebe ein unbeobachtetes Opfer. Die vier konnten alles sehen, also mussten sie auch bleiben und sehen. Um alles Weitere würde sich Mutter Natur kümmern.
    »MEIN KIND!!!« Er ging zum Strand und nahm ein loderndes Scheit aus dem Lagerfeuer. Dann schritt er hoch erhobenen Hauptes auf die Staumauer. Es war an der Zeit, kaum waren noch die umliegen den Hügel zu erken nen. Aber die Nacht, diese Nacht war wie geschaffen für den Beginn einer neuen Religion. Es war eine wundervol le Nacht zum Sterben. Der Glücklichste Mann der Welt erreichte die Staumauer. Er, der Würdenträger, lief in die Mitte des fünfundsechzig Meter hohen Bauwerks. Er betrachtete die

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