Rattentanz
zu stillen, das von den Wänden sickerte und ihre Notdurft dort zu verrichten, wo die Rinne im Nichts verschwand.
Larissa aber hatte er splitternackt ausgezogen. Am Abend stieg er mit dem Kind in den klaren See und badete sie sorgfältig, bevor er sie in eine Decke wickelte. Silvia musste mit ansehen, wie ihre Tochter im Arm des Verrückten einschlief. Sie saß auf Malows Schultern und starrte aus dem kleinen Fenster hinab zu ihrem Kind. Heute nun aber sollte der große Abend sein. Der Glücklichste Mann der Welt hatte all seine Sprengladungen verteilt. Die langen Zündschnüre liefen in der Mitte der Mauerkrone zusammen.
»Sie müssen alle gleich lang sein«, erklärte er Larissa. Mit großen Augen hörte sie ihm zu. »Damit alles im selben Moment explodiert, weißt du? Wär wirklich schlecht, wenn nicht alles gleichzeitig hochgeht. Wird dir gefallen, mein Vögelchen.« Larissa spielte mit der Ohrenkette. Neugierig biss sie in das Ohr des Schwarzen. Der Glücklichste Mann der Welt setzte das Kind auf den Boden und nahm ein Seil. Er band ein Ende Larissa um den Bauch und das andere an einen Baum. Larissa fing an zu weinen.
Silvia beobachtete alles. Allem Anschein nach war er mit seiner Arbeit am Ende. Aber ihre Vermutung, dass er sie nun einen nach dem anderen aus ihrem Verlies und auf die Mauerkrone bringen würde, entpuppte sich als falsch.
Silvia, Hans und Malow hatten viel Zeit gehabt, sich über das, was der Verrückte mit ihnen vorhatte, zu unterhalten. Am wahrscheinlichsten schien ihnen die nicht ganz so erbauliche Vorstellung, dass er sie auf die Mauer bringen und seiner Göttin als Opfergabe übergeben würde. Aber sicher nicht, ohne zuvor seine hörende Reliquienkette um einige weitere Exemplare zu erweitern. Die einzige Hoffnung, und dies war ihr magerer Plan für diesen Abend, lag in dem Moment, in dem er sie aus dem Keller holen und auf die Mauerkrone bringen wollte. Malow sollte einen Befreiungsversuch starten, er war der Einzige, der eine halbwegs reelle Chance auf Erfolg besaß. Sie hatten sich auf höchstens fünf Prozent Erfolgsaussichten geeinigt. Aber es kam schließlich ganz anders.
Der Glücklichste Mann der Welt spuckte einen Klumpen zerkautes Pferdefleisch auf ein Blatt. Dann legte er das Blatt neben Larissa.
»Musst hierbleiben, mein kleiner Jünger«, sagte er. Er streichelte Larissa und gab ihr einen Kuss. »Kann dich heute nicht frei umherlaufen lassen. Zu gefährlich.« Er richtete sich auf und betrachtete das Kind. Dann ließ er es allein und stieg auf den Hügel. Er kniete sich vor eine der Kelleröffnungen und räusperte sich.
»Heute ist der große Tag, die große Nacht, um genau zu sein. Ich werde dieses Wasser da befreien. Und ihr werdet meine Zeugen sein.«
»Werden Sie uns nicht … töten?« Silvia sah den Strohhalm.
»Nein«, sagte der Verrückte. Er ließ eine gehörige Pause. Dann: »Ich habe lange darüber nachgedacht, warum Mutter Natur euch geschickt hat.« Der Glücklichste Mann der Welt klang wie ein ganz normaler Mensch. »Wisst ihr, es geschieht nichts mehr ohne Sinn und Verstand. War früher auch schon so, aber früher konnte kaum noch jemand den Sinn hinter den Dingen erkennen. Zu laut war es, zu viel Hektik, zu viele Bilder, Pflichten, Ziele. Doch heute kann hören, wer hören will. Warum wurdet ihr zu mir gebracht? Eine große Frage, entscheidet die Antwort doch, was aus dem Vögelein, euch und auch aus mir wird. Zuerst dachte ich, Mutter Natur wünscht euch als Opfergaben am Tag der Befreiung. Aber je länger ich darüber nachdachte – und ich hatte viel Zeit zum Nachdenken – desto mehr zweifelte ich an dieser Vermutung. Eine hässliche Frau, ein Krüppel und ein alter Mann wären ein Opfer, das Mutter Natur gern nähme. Aber mein kleines Vögelein?« Sein Blick wanderte hinunter zum Waldrand. Er betrachtete das Kind, streckte seine Finger nach ihm aus. »Mutter Natur hatte andere Gründe, euch zu mir zu bringen! Ich kenne jetzt die Gründe. Fleisch war der erste, deshalb auch hattet ihr das Pferd dabei und«, er hatte Henning Malow im Dunkel des Kellers erkannt, »Sie sind ein Schelm, wissen Sie das? Mir einfach zu erzählen, das Pferd könne reden! Wer glaubt denn so etwas! Ich denke, Sie sind verrückt. Machen Sie so etwas bitte nicht noch einmal.« Er drohte Malow mit dem Zeigefinger. Aber er lächelte dabei, schließlich hatte er Malow durchschaut und end lich auch den tiefen Sinn hinter allem erkannt. Wieder an alle, erzählte er dann vom zweiten
Weitere Kostenlose Bücher