Rattentanz
vielen dünnen Zündschnüre und war ganz offensichtlich zufrieden. Dies hier war das Nervensystem seiner Konstruktion. Durch all die Schnüre lief bald eine erlösende Botschaft. Und er selbst war das Gehirn. Er kniete nieder. Die Rufe vom Haus existierten nicht in seiner Welt. Er hatte seine Instruktionen und diese mussten ausgeführt werden. Seine Hand zitterte, als er die Flamme an die Zündschnüre hielt. Diese taten, was Nervenfasern tun sollten: sie nahmen den Befehl und brachten ihn an seinen Bestimmungsort. Dutzende winzige Flammen leuchteten gleichzeitig auf. Überall sprüh ten Funken, dann liefen die Informationen auseinander. Jeder Faden hatte sein Ziel und an jedem Nerv kletterte eine leuchtende Information davon. Was folgte, war die längste Minute im Leben des Glücklichsten Mannes der Welt. Ein ganzes Leben passt in eine solche Minute, alle Entscheidungen und Fehler, Ängste und Hoffnungen. In seiner letzten Minute hatte auch Mutter Natur noch Platz. Er hatte all ihre verschlüsselten Botschaften erkannt, was sicherlich nicht jeder vermochte. Er hatte sich ihr unterworfen, brachte sich nun als Opfer dar und würde in wenigen Augenblicken seinen gerechten Lohn erhalten. Glaube war gut, der Glaube an die eine Wahrheit noch besser. Er glaubte an die eine Wahrheit, würde in ihr aufgehen und selbst zur Wahrheit. Die Zeugen werden es berichten. Der Glücklichste Mann der Welt richtete sich auf und stieg auf den breiten Rand, der den Weg über die Mauer säumte. Er sah nach unten. Fast senkrecht fiel die Mauer in die schwarze Tiefe ab. Dort unten, jetzt schon nicht mehr zu erkennen, wusste er ein kleines Kraftwerk. Überall hingen seine Päckchen, besonders große am Fuß des Bauwerks, und durch das glühende Spinnengeflecht der Zündschnüre raste die eine Information davon: Freiheit!
Er breitete die Arme aus.
»Ich liebe dich, Mutter Natur!«, schrie er so laut er nur konnte.
»Ich komme zu dir! Nimm mich auf und verzeih mir mein böses altes Leben! Ich gebe mich dir hin, sei meine Braut, ich bin dein Bräuti…«
Den Rest verschlang eine Kaskade großer und kleinerer Explosionen. Es war göttlich, ein Stakkato herrlichster Detonationen, das Trommelfeuer eines riesigen Maschinengewehrs. Es waren die Salutschüsse, die etwas Altes verabschiedeten und das große, heilige Neue begrüßten. Es war das würdige Abschiedskonzert, welches der Glücklichste Mann der Welt komponiert hatte und dessen erste Töne wie Musik in seinen weit offenen Ohren erschollen. Er konnte hören, hatte gehört und alles ganz genau verstanden.
Die gewaltige Staumauer erwies sich für den tschechischen Qualitätssprengstoff als eine Nummer zu groß. Vielleicht war es ein Fehler, viele kleine Päckchen anzubringen statt einer einziger großen Ladung, überlegte der Glücklichste Mann der Welt. Aber Zweifel hielt er in diesem Moment für unangebracht, schließlich hatte er seine Instruk-tionen von einem schlaueren Hirn erhalten. Er spürte das Bauwerk zittern. Aber die Mauer unter seinen Füßen wurde nicht weggerissen! Das Einzige, was unmittelbar in sich zusammenbrach, war das Haus auf dem Hügel.
Das eigentliche Ziel, die Staumauer, hielt stand.
Aber jeder Schlag im Trommelfeuer der Befreiung schickte Erdbeben durch den Beton. Der Glücklichste Mann der Welt hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Überall Explosionen, Rauch und Staub. Dann ein besonders schwerer Schlag, der ihn auf den Boden warf. Es war der letzte Schlag seiner Komposition. Wind stieg an der Staumauer empor und trug den Rauch der Explosionen in den klaren Sternenhimmel. Kleine Wellen liefen von der Mauer weg über den See und das enthusiastische Hoffen in ihm war verstummt. Zwischen den Hügeln rollten die Donner der Explosionen über das Wasser. Der Glücklichste Mann der Welt richtete sich auf. Wieso stand die Mauer noch? Wieso waren die Wasser nicht frei? Was stimmte hier nicht? Er stürzte an den Rand der Mauer – alle Sprengladungen waren hochgegangen. Am Fuß der Mauer brannte das kleine Kraftwerk, eben so der Wald an mehreren Stellen. Zum Teil hatten die Explosionen kleine Löcher in den Beton gerissen, überall war die Mauer schwarz verfärbt.
Was war schiefgelaufen?
Er starrte in die Tiefe. Zweifel, Angst, Versagen.
Da sah er mit einem Mal etwas, das vorher noch nicht da war! Im selben Moment spürte er ein neues Zittern unter seinen Füßen. Was er sah, gab ihm neue Hoffnung. Alles würde sich doch noch zum Gu ten wenden!
An mehreren
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