Rattentanz
tiefen, hohlen Ton von sich, fast wie eine getretene Glocke. Ruß blätterte ab und rieselte auf Kiefer und Bubi Faust. Seine Faust hielt Evas Slip. »Dann bleibe ich eben in Sattlers Haus«, entschied er. »Am Tag schlafe ich eben und wenn du auf Streife gehst, treffen wir uns. Sieh aber zu, dass Mettmüller dem Haus fernbleibt!« Das war in der Nacht vom 18. auf den 19. Juni gewesen, fast ein Monat war seither vergangen.
Eva Seger konnte sich an die versuchte Entführung nicht erinnern. Von Fuchs niedergestreckt, war alles an ihr vorbeigeflogen. In den folgenden Tagen bat sie Bubi täglich, ihr alles ganz genau zu erzählen. Auch fragte sie ihn wieder und wieder über Kiefer aus. Sie hoffte auf ein Wort, auf eine Begebenheit, die ihr Kiefers Verhalten erklären konnte. Aber Bubi sagte nichts, jedenfalls nichts, was Eva wirklich weitergeholfen hätte. Aber jedes Mal nahm sie beim Abschied ihren Retter in den Arm und dankte ihm. Aber sie bedankte sich nicht für die eigene Rettung, sondern für das, was Bubi für Lea getan hatte. Eva und Lea schliefen seit dem Überfall in Fausts Gästezimmer unter dem Dach. Tagsüber lebten sie nebenan in ihrem eigenen Haus, die Nächte erschienen ihnen aber in Fausts Haus sicherer. Sollte Martin Kiefer einen weiteren Versuch starten, dann wahrscheinlich im Schutz der Dunkelheit. Aber nachts gab es im Hause Seger nun nur noch einen weißhaarigen alten Mann, keine Eva, keine Lea. Da niemand wusste, wo sich Kiefer aufhielt, vermied es Eva, allein das Haus zu verlassen. Assauer brachte sie am Morgen ins Pfarrhaus und am Abend der Pfarrer oder seine Haushälterin zurück. Selbst den kurzen Weg in den Stall ging sie nicht mehr ohne Begleitung. Inzwischen konnte sie auch ihre Schwangerschaft nicht mehr verheimlichen. Sie war jetzt im fünften Monat und schleppte einen gut sichtbaren kleinen Bauch mit sich herum. Lea freute sich. Sie würden das erste Baby der neuen Zeitrechnung bekommen!
Als ihre Mutter sie einweihte, rannte Lea auf den Dachboden, wo ihre eigenen Babysachen lagerten und schleppte eigenhändig die Einzelteile ihres Gitterbettes in ihr Zimmer. Eckard Assauer baute es auf und Lea befestigte ihre alte Spieluhr über dem Bett.
»Da wird Papa aber staunen!«, sagte Lea und strahlte. »Der wird vielleicht gucken, wenn er plötzlich zwei Kinder hat!«
Eva war daraufhin aus dem Zimmer und zum Weinen in die Küche gerannt.
Hermann Fuchs’ Leiche wurde außerhalb der Friedhofsmauern verscharrt. Dass er wirklich Georg Sattlers unehelicher Sohn war, glaubte inzwischen niemand mehr. Mehr als einmal wurde Bubi nach seinem Wissen befragt, aber er verstand es, den Eindruck des Unwissenden zu vermitteln. Bubi erzählte nur, dass Martin Kiefer oft von seiner geschiedenen Frau gesprochen hatte, aber nie im Leben hätte er, Bubi, mit einer Entführung gerechnet. Und dass Fuchs Sattlers Sohn sei, ha be er ebenso leichtgläubig hingenommen wie der Rest des Dorfes. In der folgenden Nacht zog Martin Kiefer in Georg Sattlers Haus ein. Da Roland Basler es ihm und Bubi einst als Stützpunkt überlassen hatte und der alte Sattler sicher kein Problem mehr darstellte, war Kiefer hier relativ sicher. Bubi versorgte ihn nachts mit frischer Milch, Wasser und den neuesten Nachrichten. Als er von Eiseles Rückkehr –
vor allem aber von dem Projekt, welches dieser jetzt anstieß – berichtete, war Kiefer aufgesprungen, hatte einen Stuhl gepackt und diesen am Küchenschrank zertrümmert.
Christoph Eisele hatte Wellendingen klammheimlich verlassen, nicht einmal seine Eltern wussten, wo er sich befand. Der Einzige, den der jun ge Mann in seine Pläne eingeweiht hatte, war Eckard Assauer gewesen.
Eisele hatte sich nach Bonndorf geschlichen, nachts, und dort an Christian Stadlers Tür geklopft. Bonndorf war Eiseles zweite Heimat. Hier hatte er nach seinem abgebrochenen Studium einen kleinen La den betrieben, hier hatte er Jahre zuvor die Schule besucht. Er hatte in der Stadt weitläufige Verwandte und viele Bekannte, von denen heute aber nur noch eine Handvoll in der Stadt lebte. Wie in Wellendingen und jedem anderen Ort auch zählte hier keiner mehr die Weggegangenen und die Toten. Zu sehr beschäftigte alle der Kampf ums eigene Überleben, um nach hinten sehen zu können.
Eisele hatte gehofft, dass Stadler noch in der Stadt war. Stadler war Elektriker. Sein ursprünglicher Plan sah vor, sich von Stadler alles Nötige erklären und aufschreiben zu lassen, was zur Nutzung des Wellendinger Windrades
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