Rattentanz
wichtig sein könnte. Aber es kam anders. Der Rat in Bonndorf hatte Stadler einige Tage zuvor untersagt, sein eigenes ehrgeiziges Projekt weiterzubetreiben.
»Wir können es uns nicht länger erlauben«, sagte ihm ein Abgeord neter des Rates, »drei kräftige Männer an dem Windrad herumspielen zu lassen. Herumspielen, genau das ist es nämlich, was ihr dort macht. Welchen Sinn hat das Ganze? Was nützt uns Strom, wenn wir verhungern? Wir haben kaum noch etwas zu essen und von diesem wenigen müssen wir dich und deine Helfer auch noch ernähren.«
Christian Stadler wurde jede Unterstützung entzogen, er und seine Hel fer wurden zu anderen Arbeiten abkommandiert. Diese Wendung machte Stadler den Entschluss, seine Heimatstadt zu verlassen und ins nahe Wellendingen zu gehen, relativ leicht und Wellendingen empfing ihn mit offenen Armen. Manche feierten ihn bereits als den zukünftigen Heilsbringer. Elektrisches Licht wäre ein Anfang, ein erster Schritt zurück ins gelobte Land. Heute nun arbeitete Christian Stadler schon den vierten Tag am Windrad auf dem Hardt. Getreide wuchs dort zwischen verstreuten Flugzeugtrümmern.
Bevor sich Stadler an die eigentliche Arbeit am Windrad und in Wellendingen machen konnte, musste allerdings ein anderes Problem gelöst werden. Die vom Wellendinger Windrad erzeugte Energie floss unterirdisch auf direktem Wege nach Bonndorf und wurde da, gemeinsam mit dem Strom der dortigen Anlage, ins allgemeine Netz ein gespeist. Eine direkte Stromleitung vom Hardt hinab nach Wellendingen existierte nicht. Noch nicht. Stadler ordnete den Abriss einiger Holzmasten an. Diese hatten abgelegene Aussiedlerhöfe früher einmal mit Elektrizität versorgt und wurden nun entlang des Feldweges auf das Hardt hinauf neu aufgestellt. Es war ein Knochenjob und die hungernden Männer schafften selten mehr als zwei oder drei neue Pfosten am Tag. Es mussten von Hand tiefe Löcher ausgehoben werden und zum Aufrichten der Masten waren ein Dutzend Menschen nötig. Aber Stück für Stück wuchs das erste Wellendinger Bauwerk der neuen Zeit und die Menschen waren stolz auf ihre Arbeit. In knapp einer Woche könnte, so Stadler, die Leitung stehen und spätestens im Herbst hätten sie dann und wann auch mal wieder Strom. Je nach Windstärke.
Eckard Assauer organisierte alles. Er teilte die Menschen zu den jeweiligen Arbeiten ein und achtete darauf, dass man keinen vergaß. Nicht einmal ein Uwe Sigg, der es ein Leben lang verstanden hatte, der Arbeit tunlichst aus dem Wege zu gehen, konnte sich länger verstecken. Die Arbeit unter dem Kommando von Bardo Schwab hatte er nicht lange ausgehalten und sich dann doch zum Holzsammeln gemel det. Dies glich bei Sigg jedoch eher einem gemütlichen Spaziergang denn Arbeit. Aber um das Holz kümmerten sich nun ältere Einwohner und Sigg durfte fortan am Stromprojekt mitwirken. Einzig Roland Basler schaffte es auch weiterhin, nur dann aufzutauchen, wenn er glänzen konnte und genügend Publikum in der Nä he war, das ihn auch sah. Kam er vorbei, hielt er die Männer und Frauen von ihrer Arbeit ab. Aber er erzählte ihnen von der nahen Zukunft, der Zukunft unter seiner Leitung und dass Stadlers Ankunft nur ihm zu verdanken wäre. Überhaupt war er es, der die Idee mit dem Windrad hatte und eins, so Basler, war sicher: solange er dem Wellendinger Rat vorstand, konnte, wie schwer die Zeiten auch waren, nichts schiefgehen.
Frieder Faust verließ am Nachmittag des 11. Juli das erste Mal seit Wochen wieder sein Zimmer. Die Monster und Ungeheuer seines De-liriums hatten ihn genauso plötzlich verlassen wie sie gekommen waren. Eva war zufrieden, denn die von ihr befürchtete Lungenentzündung war ausgeblieben. Faust hatte fast zwanzig Kilo abgenommen, er passte jetzt problemlos in Bubis Kleider. Eckard Assauer und Christoph Eisele nahmen ihn an der Schlafzimmertür in Empfang und führten ihn die steile Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Zweimal knickten Fausts Beine wie Gummifäden weg. Es würde noch lange dauern, bis er wieder auf die Straße hinauskonnte, von arbeiten ganz zu schweigen.
Sie führten Faust an den Küchentisch. Susanne hatte zur Feier des Tages gemeinsam mit Eva und Lea einen Kuchen gebacken. Die Frau en hatten in der Mühle ein halbes Pfund Mehl erhalten, Milch gab’s im Stall und Eier von Bea Baumgärtners Hühnern. Das eigentliche Pro blem war das Backen des honigsüßen Teiges. Zum Glück hatten sie sich an den alten Holzherd in Hildegund Teufels Haus erinnert.
Weitere Kostenlose Bücher