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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Fingernägel gegen die Umarmung einer Tochter? Sie versuchte sich einzureden, dass mit Larissa alles in Ordnung war, aber immer wieder schlichen sich Bilder in ihren Kopf, die da nicht sein sollten, die ihr aber neue Kraft gaben. Die einzige Möglichkeit, die Bilder von einem zerrissenen Seil am Baum loszuwerden, bestand in Larissas Befreiung. Um Gewissheit zu erlangen musste sie hier raus, alles andere war verschwendete Zeit. Gegen Mittag hatten sie das Loch endlich so weit vergrößert, um einen ersten Ausbruchsversuch zu wagen. Silvia zwängte sich durch die schmale Öffnung. Ohne Probleme konnte sich die schlanke Frau hinauswinden. Als sie draußen war, schlug ihr warmer Sommer ins Gesicht. Aus den Wäldern empfing sie ein Vogelkonzert. Sie putzte ihre Brille mit dem Saum des Kleides.
    »Wie sieht es aus?«, fragten Hans und Malow aus dem Keller. Aber Silvia war schon weg. Sie rannte den Hügel hinunter, vorbei an dem asphaltierten Weg, der jetzt im Nichts endete, und weiter über den Kies. Hier irgendwo musste Larissa sein!
    Rechts stürzte der Kiesstrand unvermittelt in die Tiefe. Pechschwarz dehnte sich eine Zone leblosen Bodens aus, nach oben wie mit einem Lineal abgeschnitten. Darüber üppiges Grün. In wenigen Wochen würde auch der Kosmos, den der Glücklichste Mann der Welt in dieser Nacht befreit hatte, wieder leben. Erstes Grün würde sprießen, Insekten und Vögel das zurückgewonnene Land bevölkern. Aber im Moment gab es nur schwarzen Schlamm. Und kein Hinweis auf Larissa!
    »Larissa!« Keine Antwort. »Larissa!«
    Silvia suchte alles ab. Hier irgendwo war es doch. Sie drehte sich zum Haus um, da bemerkte sie eine Bewegung zwischen den Bäumen. Larissa war, so weit es ihr das drei Meter lange Seil gestattete, in den Wald gekrabbelt. Sie hatte einen blanken Knochen des Schwarzen entdeckt. »Aoo, Aoo!«, rief sie ihrer Mutter zu und zeigte auf das Spielzeug. Sie scharrte mit den Füßen im Dreck, reckte ihren verschmierten Po. Sie gab alles, um den Knochen zu erreichen. Er lag nur wenige Zentimeter vor ihren Fingerspitzen und war in diesem Augenblick das Wichtigste der Welt. »Aoo!« Das Kind ächzte, strengte sich an, aber alles war vergebens. Sie fiel zurück, eine Armada Schmeiß fliegen umschwirrte sie. Sie weinte. Silvia stürzte auf ihre Tochter zu. Sie fiel neben ihr auf die Knie und eine schwarze Fliege setzte sich auf ihre Brille. Sie umarmte Larissa. Als sie weinte und ihre Tränen zuerst über Silvias, dann über La rissas schmutzige Wangen rollten, wusste sie, dass das Leben weiter ging. Es ging ihr nicht einfach nur darum, sich und das Kind irgend wie am Leben zu erhalten. Sie wusste, sie wollte leben. Das, was sich in den Jahren vor dem 23. Mai abgespielt hatte, war kein Leben, das war höchstens ein Existieren gewesen. Ein Dasein, frei von tiefen Empfindungen, dafür mit umso mehr Einsamkeit. Silvia hielt ihre Tochter in den Armen und lebte.
    Larissa schien die Mutterlosigkeit der letzten Nacht und dieses Mor gens bereits vergessen zu haben. Wenn sie sich denn über die Rückkehr der Mutter freute, behielt sie es für sich. Sie wand sich in deren Armen und wollte unbedingt einen Blick auf diesen wundervollen Knochen erhaschen. Vorwurfsvoll sah sie mit tränenüberström tem Gesicht auf die Mutter. Gib ihn mir, sagten ihre großen Augen. Silvia erinnerte sich an Hans und Malow und dass diese ihre Hilfe brauchten. Sie löste das Seil und rannte mit Larissa zurück auf den Hügel. Sie setzte das Kind ins Gras. Das sah sich kurz um, dann hatte es etwas entdeckt.
    »Bumm«, sagte Larissa und zeigte auf die Überreste der Staumauer. Silvia arbeitete wie eine Besessene. Mit beiden Händen rollte sie mal größere, dann wieder kleinere Mauerstücke zur Seite. Schließlich bekam sie einen Balken zu fassen, hob ihn an und zog ihn wie einen Zirkel zur Seite. Das war der entscheidende Handgriff. Minuten später hatten Hans und Malow ihrerseits die Öffnung so weit vergrößert, dass zuerst Hans, dann sein Begleiter aus dem Verlies klettern konnten. Beide bluteten an Händen und Knien und waren von einer dünnen Staubschicht überzogen. Ihr Schweiß hatte Linien in den Staub gezogen. Sie schützten die Augen vor der ungewohnten Helligkeit. Dann entdeckten sie, was der Glücklichste Mann der Welt angerichtet hatte und gingen in die Knie. Die Sonne stand schon tief über den Hügeln, alle vier schliefen. Sie hatten den vergrabenen Fleischvorrat gefunden, ebenso ein paar ihrer wenigen Habseligkeiten,

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