Rattentanz
die Angst vor Martin Kiefer wog eben schwerer als der Wunsch nach den eigenen vier Wänden. Neben Eva lag Lea. Sie atmete tief und regelmäßig. Eva streichelte ihren Kopf, an das ungewohnte Gefühl der nur wenigen Millimeter langen Haare hatte sie sich nach zwei Tagen noch immer nicht gewöhnt. Aber Leas Locken würden nachwachsen, tröstete sie sich, wie auch ihr eigenes Haar.
Vor einer Woche waren die ersten Läuse aufgetaucht und hatten zü gig alle Köpfe des Dorfes okkupiert. Mit Kämmen und Fingerspitzen war ihnen nicht Herr zu werden und so wurde das Problem nach Altervätersitte bekämpft. Kurzerhand hatte man alle Köpfe und Bärte kurz geschnitten und die lausverseuchten Haare verbrannt. Eva und Lea hatten ihre Locken verloren, Eugen Nussberger seinen Bart, Bea Baumgärtner ihren schwarzen Pagenkopf, dessen seit dem 23. Mai nachgewachsene Haare schneeweiß waren und Assauer seinen aristo kratischen Kopfschmuck. Nicht einmal den Pfarrer und seine Haushäl terin konnte man verschonen. Eva war gegen Mitternacht aufgewacht. Im Haus war alles still, Bu bi auf Streife und Susanne und Frieder Faust lagen in ihrem wieder her gerichteten Schlafzimmer. Den übrig gebliebenen Gestank von Fausts Delirium zu vertreiben hatte einige Tage Lüftung und einen Ei mer Wandfarbe gekostet. Aber schlussendlich war es gelungen. Faust, freute sich Eva, erholte sich erstaunlich schnell. Er kam wieder zu Kräften und je mehr er wieder der Alte wurde, desto entschlos sener stürzte er sich auf alle möglichen Arbeiten. Vielleicht tat er dies, um nicht an Alkohol denken zu müssen. Aber Eva kannte Faust lange genug und wusste, dass Faust einfach so war wie er war. Er brauchte Arbeit wie andere ein gutes Buch oder das Gespräch mit einem Freund. Ohne Arbeit war Faust ein ungegossenes Pflänzchen, das verkümmern musste und ungenießbar war. Susanne hatte Eva im Vertrauen vom Plan der Männer berichtet, Basler am kommenden Sonntag abzusetzen. Fast tat ihr Basler ein bisschen leid; immerhin war er, als bekannt wurde, dass Faust wieder auf den Beinen war, mit einem Strauß Blumen und (wie unpassend) einer Flasche Wein vorbeigekommen. Den Wein hatte Susanne geöffnet und in den Ausguss geschüttet, während Basler am Küchentisch saß und erzählte, wie gut alles im Ort organisiert wäre. Da schien Basler erst zu bemerken, welcher Fauxpas ihm unterlaufen war. Ein Gespräch kam danach nicht mehr in Gang und Basler verabschiedete sich bald.
Seit Bubi Georg Sattlers angeblichen Sohn erschossen hatte und seit Eiseles Rückkehr aus Bonndorf hatte niemand mehr etwas von Martin Kiefer gehört. Eigentlich gab es, bis auf Fuchs’ letzte Worte, keine Beweise, dass dieser Hermann Fuchs und ihr Exmann etwas miteinander zu schaffen gehabt hatten. Aber Evas Instinkt sagte ihr, dass hinter Fuchs’ Entführungsversuch nur einer stecken konnte. Wieso sonst sollte ein wildfremder Mann sein Interesse an ihr auf solch barbarische Art zeigen? Fuchs, den sie täglich im Stall getroffen hatte, hätte alle Zeit der Welt gehabt, ihr Offerten jeglicher Art zu machen – wenn er denn gewollt hätte. Aber nie, erinnerte sich Eva und streichel te Lea weiter, nie hatte er mehr als ein Hallo oder Tschüss von sich gegeben.
Seit Bubi sie gerettet hatte, war es ruhig geblieben. Vielleicht hatte Martin endlich aufgegeben, vielleicht war sein richtiger Hunger inzwischen stärker als sein Hunger nach ihr, vielleicht war er weggegangen. Vielleicht war er tot. Jedenfalls blieb er wie vom Erdboden verschluckt. Und das, fand Eva, war gut so. Aber manchmal, vor allem nachts, wenn sie wach lag und sich nach Hans sehnte, spürte sie, dass Martin noch lebte – nicht irgendwo, sondern ganz in der Nähe. Lea fragte nur noch selten nach ihrem Vater. Sie war fast ausschließ lich mit Thomas unterwegs. Beide waren unzertrennlich und Lea berichtete jedem, der es hören wollte, vom Moment der Befreiung aus Fuchs’ Krallen. Eva konnte sich an nichts erinnern und musste Bu bis, Assauers und Leas Schilderungen glauben. Thomas Bachmann selbst erzählte nichts, war aber, wenn man Lea glaubte, ausschlaggebend für ihre Rettung gewesen. Um halb eins klopfte es an Fausts Haustür. Eva lag noch immer wach. Ihr erster Gedanke war: Martin!, ihr zweiter: Es ist etwas passiert! Instinktiv zog sie Lea zu sich heran. Im Haus blieb alles still. Es klopfte wieder, nein, diesmal hämmerte jemand an die Tür. Eva hörte Frieder fluchen und die Treppe hinuntergehen. Kurz darauf hörte sie Frieders
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