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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Stimme: »Eva!«
    Eva Seger hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Aber das ging nicht. Sie blieb unbeweglich liegen und umklammerte Lea noch ein bisschen fester, ließ aber sofort wieder nach als sie merkte, dass ihre Umarmung zu eng war und Lea im Schlaf nach ihr schlug.
    »Eva! Komm runter. Besuch für dich!«
    Brauchte jemand im Dorf ihre Hilfe? War etwas passiert, gab es Verletzte? Nein, Eva wusste, dass der nächtliche Besuch etwas mit Hans zu tun haben musste. Sie hatte Angst. War das jetzt der Moment, vor dem sie sich seit Wochen fürchtete? Wenn Hans etwas zugestoßen war, in Schweden oder seinem Weg hierher, wollte sie es nicht wissen! Sie wollte weiter hoffen und jeden Abend mit Lea für ihn beten und annehmen, dass Hans unterwegs war zu ihnen. Frieder Faust stand jetzt vor ihrer Tür und klopfte.
    »Mach auf, Eva! Komm runter. Und bring Lea mit.«
    Sie tat, als wäre sie im Moment erst erwacht.
    »Ich komm gleich. Ich zieh mir nur schnell was über.« Ihre Stimme zitterte.
    Nichtwissen bedeutete Glück. Nichts von Hans’ Zustand zu wissen, Hoffnung. Wenn jetzt jemand da unten in der Küche saß und ihr eine Nachricht überbringen wollte, war dies das Ende. Aber sie wollte den Briefkasten nicht öffnen, obwohl sie ganz genau wusste, dass sich dort Rechnungen und Mahnungen türmten, die sie niemals im Leben bezahlen konnte. Wenn sie den Briefkasten nicht öffnete, die amtlichen Briefe nicht aufriss und die Forderungen nicht schwarz auf weiß mit eigenen Augen sah, dann existierten sie nicht wirklich. Sie existierten wohl in ihrer Vorstellung, es musste diese Rechnungen und Mahnungen geben, aber sie hatten noch nicht Gestalt angenommen. Sie wollte den Briefkasten, der da unten in der Küche saß, nicht öffnen. Eva wollte keine Gewissheit. Sie zog ihr weites Kleid an, Lea ließ sie schlafen. Es gab kein Morgen ohne Hans, dies stand fest. Ohne ihn gab es kei ne Normalität, keinen Alltag – einfach kein wirkliches Leben.
    Sie verließ das Gästezimmer. An der Treppe zögerte sie. Sie versuchte, sachlich über das, was sie erwartete, nachzudenken. Aber sie konnte sich noch tausendmal sagen, dass sie sich irgendwann einmal der Wahrheit stellen musste, sie wollte es einfach nicht. Eine Wahrheit wird erst zur Wahrheit, wenn man sie als solche akzeptiert. Sollte Hans etwas zugestoßen sein, würde sie es nie und nimmer akzeptieren können. Sie hörte fremde Stimmen, hörte Frieder und auch Jürgen Mettmüller. Die Stimmen verströmten gedämpfte Fröhlichkeit. Auf dem Küchentisch flackerte eine einzelne, dicke Weihnachtskerze, tiefrot und ringsum mit wulstigen Tannenzweigen aus Wachs verziert, am Tisch saßen eine Frau und zwei Männer. Mettmüller stand an der Küchentür, lächelte und machte Eva nur zu gern Platz. Faust stand ebenfalls, auch seine Gesichtszüge wirkten entspannt, so weit sich das nachts um halb eins, mit einer einzelnen Kerze als Lichtquelle, beurteilen ließ. Aber er kam nicht zu ihr, nahm sie nicht in den Arm und sagte nicht, du-musst-jetzt-stark-sein oder solches Zeug. Das war ein gutes Zeichen.
    Als Erstes fiel Eva die Frau auf, die der Tür gegenübersaß. Sie war alles andere als schön und in ihren dicken Brillengläsern spiegelte sich die Kerze. Im Arm hielt sie ein schlafendes Kind. Rechts neben ihr saß
    ein alter Mann, unrasiert, abgemagert und offensichtlich hundemüde. Er hatte den Kopf auf seine Hände gestützt und die Augen offen zu hal ten kostete ihn sichtlich Überwindung. Als Eva die Küche betrat, sah er sie kurz an, dann zu dem Dritten, der mit dem Rücken zur Tür saß. Eva blieb stehen. Sie wusste, wem diese Schultern gehörten, wem der Kopf! Diesen Briefkasten war sie bereit, zu öffnen. Ihre Stimme zitterte.
    »Hans?«
    Hans blieb sitzen, drehte sich aber zu ihr um. Faust hatte ihn auf die neue Frisur seiner Frau vorbereitet, trotzdem erschrak er, dann musste er lächeln.
    »Hans! Du bist es wirklich.«
    Er war es, wenn auch mit längeren Haaren, Bart und von der Sonne verbranntem Gesicht.
    »Ja. Ich bin’s.«
    Endlich! Seine Stimme! Erst jetzt schien sie zu glauben, was sie sah. Hans Seger stand auf. Er versuchte, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. »Und ich gehe nie wieder weg.« Er nahm sie in den Arm und küsste ihre Tränen weg. Ihre kurzen Haare kratzten an seinem Hals. Susanne brachte einen Krug Milch, Gläser, ein Brot, das sie am Vortag gebacken hatte und einen Klumpen Butter. Butter und Käse, die die Frauen des Dorfes herstellten, wurden

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