Rattentanz
immer besser, wie auch Susannes Brote. Das Rezept hatte sie noch von Hildegund Teufel. Eva und Hans hielten sich minutenlang in den Armen. Keiner sagte ein Wort. Der fehlende Körperteil war wie durch ein Wunder zurückgekehrt. Erst jetzt waren sie wieder sie selbst.
»Wo ist Lea?«
»Oben im Gästezimmer«, antwortete Faust statt Eva.
»Sie schläft.« Eva wischte sich die Tränen vom Gesicht, mit dem Handrücken, wie ein kleines Kind. Verlegen betrachtete sie ihren Mann.
»Wieso seid ihr hier? Was ist mit unserem Haus?«
Mettmüller merkte, dass jetzt die Zeit der Gespräche und Erklärungen anbrach. Er verabschiedete sich. »Ich muss wieder. Mal sehen, ob ich Bubi irgendwo finde. Er wird sich freuen, wenn er hört, dass du wieder da bist, Hans.« Mettmüller nickte Hans Seger zu und verschwand.
»Mit unserem Haus ist alles in Ordnung. Ist ’ne lange Geschich te.«
Sie hielt seine Hand, konnte ihre Finger einfach nicht wegnehmen.
»Aber jetzt ist alles gut. Du bist da.« Vorsichtig, als könne sein Bild zerplatzen, wenn sie ihn zu fest berührte, streichelte sie sein Gesicht, als sei es das erste Mal.
»Bringst du mich zu Lea?«
»Komm.« Nur ungern löste sie sich aus der Umarmung und zog ihn an der Hand die Treppe hinauf.
Lea schlief.
Hans ging zu ihr, kniete sich neben das Bett und küsste sie. Er wein te. Aber es waren gute Tränen. Er hatte mehr wieder gefunden als er je mals erwarten durfte. Gehofft hatte er es immer, aber dass beide tatsächlich noch am Leben waren, dass es beiden gut ging, grenzte an ein Wunder. Ein mindestens ebenso großes Wunder wie das seiner Rückkehr. Das Leben war schön.
»Soll ich sie wecken?«, fragte Eva. Sie stand im Türrahmen. So ru hig wie in diesem Augenblick hatte sie sich seit Wochen nicht gefühlt.
»Nein.« Hans zog die dünne Decke über Leas nackte Schultern.
»Das hat Zeit bis morgen.«
Sie gingen wieder nach unten.
»Du humpelst ja.«
»Halb so wild«, wiegelte Hans ab und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Die Anstrengung des mehr als zehn Kilometer langen Fußmarsches heute hatte seinem Bein alles andere als gut getan. Aber davon musste Eva nichts wissen. Noch nicht. Die Zeit für solche Kleinigkeiten wird kommen, morgen vielleicht oder übermorgen, dachte Hans. Jetzt wollte er wissen, wie es Lea und Eva seit dem 23. Mai ergangen war, wieso sie hier in Fausts Haus lebten und was es mit den Flugzeugtrümmern oben auf dem Hardt auf sich hatte. Aber Eva weigerte sich standhaft, auch nur ein Wort zu sagen, bevor er nicht alles von seiner Reise quer durch Deutschland berichtet hatte.
»Mit einem Floß?« Faust hob die Augenbrauen. »Mit einem Floß
über die Ostsee?! Hätt’ ich mir nicht zugetraut.«
»Ach was. Du hättest Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu Susanne und Bubi zurückzukommen.«
»Und was ist mit deinem Bein passiert?«, fragte Eva. Sie hatte schon die dritte Scheibe Brot dick mit Butter bestrichen und schob sie ihm hin.
»Gebrochen«, antwortete Hans mit vollem Mund. »Also vermutlich gebrochen. Röntgen konnten wir es nicht und ein Arzt hat es auch nicht gesehen. Habt ihr einen Arzt hier?«
»Nur eine Krankenschwester«, sagte Faust. »Deine Eva hat die Rol le einer Ärztin übernommen. Sie praktiziert im Pfarrhaus.«
»Gibt es viele Tote?« Hans dachte an all die Dörfer, die sie unterwegs gesehen hatten, an die Gewalt der ersten Tage. Und er dachte an den Hunger, der der Gewalt gefolgt war wie ein treuer Hund und alles und jeden mit seinem giftigen Urin anpinkelte.
»Leider«, antwortete Faust. »Viele sind gestorben, mindestens eben so viele weggegangen. Ist aber überall das Gleiche. Seit Kurzem sind wir wieder mit den Bonndorfern in Kontakt. Bei denen ist es fast noch schlimmer. Und in Wittlekofen und Brunnadern sieht’s auch nicht viel besser aus. Aber jetzt scheint es sich irgendwie eingependelt zu haben. Gestern und vorgestern waren die ersten zwei aufeinanderfolgenden Tage, an denen niemand gestorben oder weggegangen ist.«
Faust klang fast ein wenig stolz.
»Eingependelt«, wiederholte Henning Malow. »Das ist es. Wie auf einer Waage. In der einen Schale sitzen wir, in der anderen liegt das, was man uns zum Leben gibt. Makaber, aber nur weil so viele tot sind, leben wir.«
Silvia hatte Mühe wach zu bleiben. Nach einer Stunde hatte sie verloren und schlief am Küchentisch ein.
»Wo können Silvia und Malow schlafen?«, fragte Hans.
»Sie können heute Nacht in unserem Haus bleiben«, sagte
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