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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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öffnete Lea die Augen. Ihr erster Blick fiel auf den kräftigen, braunen Arm ih res Vaters. Er hob sich wie ein Schatten von den schneeweißen Brüsten ihrer Mutter ab. Ein Schatten. Nur ein Traum. Lea schloss die Augen und versuchte, sich an ihren Traum zu erinnern. Jeder träumte, auch wenn er es am nächsten Morgen nicht mehr wusste. Als sie Minuten später erneut ihre Augen öffnete, lag der Schatten noch immer da. Sie folgte seinem Verlauf und blieb am Gesicht ihres Vaters hängen. Lea setzte sich auf. Er war es! Er war es wirklich! Sie kletterte aus ihrem Bett und drängelte sich zwischen ihre nackten Eltern.
    »Papa«, flüsterte sie. Mehr nicht. All die vielen Dinge, die sie ihm erzählten wollte, blieben ungesagt. Sie schloss die Augen. Sie konnte ihm später noch vom Flugzeugabsturz berichten und von Herrn Mittwoch oder Eckard, wie sie ihn mittlerweile nennen durfte. Auch von Thomas musste sie erzählen und dass es Gras gab, das man essen konnte. Und noch so vieles mehr. Später.
    »Papa.« Dann schlief Lea wieder ein.

104
    22. Juli, Wellendingen
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    »Seger ist wieder zurück?!« Kiefers Stimme überschlug sich. Entsetzen stand in seinen Augen, Wut und Hass – und auch ein Anflug Panik. Als Bubi in der Nacht zu diesem alles entscheidenden Sonntag zu ihm in den Unterschlupf kam und wie ein Erstklässler herumdrucks te, der in die Hosen gemacht hatte, war Kiefers erster Gedanke: Basler. Basler hat in letzter Minute kalte Füße bekommen und macht einen Rückzieher. Oder Bubi selbst wollte nicht mehr, oder Eva war krank und bei der Versammlung, die heute nach dem Kirchgang stattfinden sollte, nicht mit von der Partie. Schöne Scheiße wäre das – der Samstagabend-Megasuperturboblockbuster ohne die freundliche Haupt darstellerin. Mit allem hatte Martin Kiefer gerechnet, aber nicht mit der Rückkehr seines ärgsten Widersachers!
    »Was will der Wichser hier?« Kiefer quiekte, seine Stimme war hoch und überschlug sich. Bubi zuckte mit den Schultern. Woher sollte ausgerechnet er das wissen. »Warum kommt der Sack nicht eine Woche später? He? Warum, Bubi? Oder einen Tag? Nur ein einziger Tag, und alles wär in Butter!« Martin Kiefers Verzweiflung wurde nur noch von seiner Wut übertroffen. Er hatte sich Wochen im Hintergrund gehalten, hatte die Zähne zusammengebissen und gewartet und gewartet und noch mal gewartet. Und die Gelegenheit, auf die er ge-hofft hatte, sie war gekommen. Ganz von allein war sie in seinen Schoß gefallen, wie eine reife Frucht. Und jetzt, Sekunden bevor er in den saftigen Apfel beißen konnte, stand plötzlich der Gärtner im Weg. Kiefer lief in Sattlers niedriger Küche auf und ab. Bubi wartete am Küchentisch. Irgendwann, dachte der, würde sein Freund sich beruhigen und wieder zu klarem Denken fähig sein. Freund? Bubis Blicke folgten Kiefer durch den Raum. War Martin Kiefer noch der Freund, den er wollte? Bubi wusste es nicht. Martin hatte sich verändert, vor allem seit die Sache mit Fuchs schiefgegangen war und er hier und allein die endlosen Tage und Nächte verbrach te. Manchmal sprach Kiefer noch von seinen Leuten in der Nachbarstadt, von ihren Waffen und Lebensmittelvorräten und dass es nur seines Fingerzeigs bedurfte, sie zu mobilisieren. Bubi zweifelte aber schon lange an diesen Worten. Er hatte mit Eisele und Stadler gespro chen, aber so geschickt er es auch anstellte und den Namen Kiefer da bei vermied – beide wussten nichts zu erzählen, was Kiefers Versprechen untermauern konnte. Aber es war sowieso egal. Ob nun mit Martin Kiefer oder ohne ihn – Bubi war fest entschlossen, Wellendingen zu verlassen. Die Wochen, in denen sein Vater im Delirium gelegen und gegen Tod, gelbe Monster und seinen inneren Schweinehund gekämpft hatte, empfand er als die schönsten Wochen seines Lebens. Er war froh, dass Faust überlebt hatte, aber die Stärke, die er ohne seinen Vater besaß, hatte sich im selben Maße verzogen, in dem Faust gesünder wurde. Wahrscheinlich wäre alles viel einfacher, wäre er, Bubi, ein Mädchen. Ein Frieder Faust duldete keinen Mann neben sich, jedenfalls keinen starken Mann. Bubi hatte sich stark gefühlt. Er war für kurze Zeit Hausherr, Kiefers Freund, Beschützer Wellendingens und, vielleicht zum ersten Mal, wirklich Volker Bubi Faust. Aber das war vorbei. Sein Vater hatte ganz selbstverständlich seinen angestammten Platz wieder eingenommen.
    »Vater wird mir nie vertrauen oder mich unterstützen.«
    »Was faselst du?«
    Bubi hatte nicht

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