Rattentanz
dämmrigen Gastraum. Wie wenige es waren.
Durch die weit geöffneten Fenster schien die Sonne. Irrgärten aus Staub tanzten in ihrem Licht. Winterhalder, der Wirt, hatte schon lan ge keine Zeit mehr, die Wirtsstube in Ordnung zu halten, wozu auch? Außer zu den Versammlungen wurde sie nicht mehr genutzt. Staub lag auf Gläsern und leeren Flaschen. Überall auf den Tischen lagen kleine Zettel und Stifte.
Faust begrüßte Lorenz Sutter. Der hatte seine Frau an der Hand. Pe tra war im vierten Monat, vielleicht auch schon im fünften, so ge nau konnte das keiner mehr sagen. War auch egal, Hauptsache, es ging alles gut. Sie hatten Angst vor einer Entbindung ohne Ärzte, ohne Nar kose und Medikamente, aber so war das neue Leben nun einmal. Faust lächelte Petra zu. Ihre und Evas Schwangerschaft waren Hoffnung für das Dorf und die Frauen wurden umsorgt und bekamen mehr Milch als ihnen eigentlich zustand.
Faust hatte in der letzten Nacht lange mit Assauer, Eisele, Bea Baum gärtner und Hans über den heutigen Tag gesprochen. Die Reaktion der Menschen ließ sich nicht voraussagen, immerhin hintergingen sie Roland Basler, der, mochte er sein wie er wollte, nun einmal demokratisch gewählt worden war und ihrem Rat vorstand. Wie also würde ihr Alleingang ankommen?
Hans saß hinten in der Küche des Gasthauses und wartete dort auf seinen Einsatz. Während die anderen in der Kirche saßen, hatte er sich hierhergeschlichen und versteckt.
Die letzten Wochen hatten jeden im Raum verändert – sein Äußeres und sein Denken. Keiner wollte – nach dem Flugzeugabsturz und dem Ende der Zivilisation – über eine Zukunft ohne Strom, Telefon und fließendes Wasser nachdenken. Niemand denkt gern über das nach, was ihm Angst macht. Alles, was dem Menschen seine Verletzlichkeit vor Augen führt, ihm die Zerbrechlichkeit seiner spärlichen Existenz aufzeigt, wird mit aller Kraft verdrängt. So war es bei ihrer ersten Versammlung hier in der Krone gewesen, als die Vorstellung, die Katastrophe könne etwas Endgültiges sein, Kopfschütteln erntete. So war auch Faust selbst mit seinem Hauptproblem umgegangen. Ein verdrängtes Problem existiert nicht, braucht also auch keine Lösung. Die Gewalt der ersten Tage und der anschließende Hunger waren ein Desaster. Aber das wirklich Traumatisierende waren nicht Gewalt und Hunger an sich, sondern die vollkommene Überraschung, mit der die Menschen ihnen begegneten. Als die neuen Lebensumstände bei ihnen angeklopft hatten, war keiner vorbereitet gewesen. Nachrichten aus dem Irak und Reportagen aus Afrika können nicht vorbereiten. Als sich alle im Gastraum versammelt hatten und die Gespräche langsam verstummten, erhob sich Eckard Assauer. Ihm hatte man die Rolle des Rebellen zugedacht, der den Versammelten offenbaren durf te, um was es heute ging. Assauer wollte gerade zu einer Begrüßung ansetzen, als ihm Roland Basler zuvorkam.
»Sicher fragt ihr euch, warum der Rat euch hierher gebeten hat?«
Zustimmung und Gemurmel. Heute war der einzige freie Tag der Wo che, die Sonne schien endlich wieder und jeder im Raum hatte Pläne für diesen Tag. Viele hatten Hunger und waren müde von den Arbeiten der letzten Tage und Wochen. »Morgen ist es schon wieder fünf Wochen her, dass Hildegund Teufel gestorben ist. Seitdem ist ein Platz im Rat frei. Jetzt, wo es Frieder wieder bessergeht, wollten wir euch fragen, ob Frieder wieder im Rat mitarbeiten soll. Oder soll er sich besser noch darauf konzentrieren, wieder zu Kräften zu kommen? Die Arbeit könnte ihn leicht überfordern und zu einem Rückfall führen, den …«
»Wir möchten geschlossen zurücktreten und euch bitten, den Rat komplett neu zu bestimmen!«, fiel ihm Eckard Assauer ins Wort. Er erntete einen wütenden Blick Baslers und einiges an Aufregung im Saal.
»Nicht schon wieder«, stöhnte Uwe Sigg. Gewohnheitsmäßig woll te er sich mit der Hand durch die blonden Locken fahren. Das Kratzen in der Handfläche erinnerte ihn an seine neue Frisur. »Brauchen wir überhaupt einen Rat, der alle paar Tage neu gewählt werden will?«
Seine Frau Lisa zog ihn am Ärmel.
Siggs Frage erntete spontan Zustimmung.
»Es läuft doch alles einigermaßen«, sagte eine Frau. »Wozu einen Rat?«
»Weil wir ohne Rat erst recht keine Chance haben werden, den kommenden Winter zu überstehen.« Faust hatte sich erhoben und es wurde still. Heute brauchte er nicht mehr auf den Tresen zu klettern, um von allen gesehen zu werden, er hätte auf seinem Stuhl
Weitere Kostenlose Bücher