Rattentanz
sitzen bleiben können und wäre trotzdem der Mittelpunkt gewesen. »Ich wä re heute nicht mehr am Leben, wenn der Rat sich nicht um mich ge kümmert hätte. Und einige von euch auch nicht. Ich will keinem etwas Böses unterstellen, aber es ist nun einmal so, dass nicht jeder im Ort über alles Bescheid wissen kann. Das geht nicht. Deshalb ist ein Rat so wichtig. Ihr habt mir geholfen, jeder Einzelne von euch. Aber nicht auf eigene Faust – der Rat hatte es so organisiert. Wenn du, Uwe, wenn du heute krank wirst, was glaubst du, wer sich um dich kümmert? Lisa kann nicht gleichzeitig an deinem Bett sitzen und dich umsorgen und nebenher noch für euch beide arbeiten. Der Rat hat die Aufgabe, den Überblick zu bewahren, zu sehen, wer Hilfe benötigt und wer helfen kann. Der Rat muss entscheiden, welche Arbeiten dringlich sind, was warten kann und was überflüssig ist. Der Rat …«
»Der Rat ist eure Fahrkarte zurück in eine bessere Zukunft«, unterbrach ihn Basler und stand ebenfalls auf. Er blieb dem Tresen gegenüber stehen, trat einen Schritt zur Seite und befand sich nun exakt vor einem der Fenster. Die Sonne wärmte seinen Rücken. Er verwandelte sich in eine schwarze Silhouette, von Sonnenstrahlen umspielt und als er nun auch noch die Arme ausbreitete, war die Inszenierung perfekt. »Ihr wisst, dass wir erste Kontakte zu den Nachbarorten aufgenommen haben«, sagte Basler. »Wir können uns nicht ewig isolieren. Die Zeit der Gewalt scheint vorbei zu sein, vorerst jedenfalls. Ihr wisst, dass ich in Bonndorf meine Kanzlei hatte. Ich habe ausgezeichnete Kontakte dahin, Kontakte, die ich für uns alle nutzen kann. Wir können nicht allein all die Felder Wellendingens abernten und wieder neu bestellen. Aber wir könnten die Felder, die wir nicht selbst bestellen, nach Bonndorf verpachten und uns mit einem Teil der Ernte bezahlen lassen. Ich verspreche euch, dass …«
»Für Versprechungen ist heute ausnahmsweise keine Zeit.« Eckard Assauer stand auf. »Versprechungen sollten der Vergangenheit angehören. Wenn wir alle unser Bestes geben, brauchen wir keine Verspre chungen.«
»Genau«, pflichtete ihm Nussberger bei und spuckte an Basler vorbei aus dem Fenster. Markus Thoma, der Lehrer, von dessen Pummeligkeit nichts mehr zu sehen war, räusperte sich. Seine Klasse bestand aus nur noch sieben Kindern. Er unterrichtete sie ohne feste Zeiten. Regnete es, fand man sich von ganz allein im Schulhaus ein, schien die Sonne, traf Tho ma seine Schützlinge auf den Feldern und während sie zusammen Garben bündelten und ins Dorf trugen, fragte er sie nebenher in Englisch über Winkelfunktionen und die (ehemaligen) Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aus.
»Es ist schön, dass du wieder da bist, Frieder«, sagte er leise. Er hatte sich angewöhnt, leise zu sprechen, das zwang die Schüler, ihm zuzuhören und selbst leise zu sein. »Ihr habt bisher wirklich gute Arbeit geleistet. Ich weiß nicht, was aus uns allen geworden wäre, wenn ihr den Job nicht übernommen hättet.« In der Gaststube hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. »Vielleicht ist es ein ganz natürliches Verhalten, dass der Mensch in Notzeiten seine Probleme gern jemandem aufbürdet und dann, wenn es ihm besser geht, diesen Jemand nicht mehr kennt. Aber ich finde, uns geht es zwar besser, aber noch lange nicht gut genug, um auf unseren Rat zu verzichten. Wenn wir jetzt so überheblich sind und denken, jeder könne allein zurecht-kommen, dann begehen wir einen großen Fehler. Jetzt ist es warm und alle haben einigermaßen zu essen. Aber was wird im Winter? Sind wir auf einen Winter vorbereitet?«
»Weihnachten können wir wieder telefonieren und haben auch wieder Strom«, widersprach Basler trotzig. Ausnahmslos alle im Saal sahen ihn an. Einige schüttelten den Kopf, andere lachten offen. Einige aber sogen Baslers Worte wie Manna in sich auf. Hätte Basler doch recht, dachten sie. Ihre Augen leuchteten bei der Vorstellung, endlich nicht mehr Bäume mit Äxten fällen zu müssen, den leeren Kühlschrank im nächsten Supermarkt aufzufüllen und diesen Zustand hier wie einen bösen Traum einfach vergessen zu können.
»Wenn du den Leuten so etwas versprichst«, rief Bea Baumgärtner, »bist du ein Lügner! Schäm dich, falsche Hoffnungen zu wecken!
Komm lieber mit Rike raus aufs Feld und hilf uns bei der Ernte. Der nächste Winter wird kommen, das ist so sicher wie das Amen nach je der Predigt unseres Herrn Pfarrers. Und wenn wir
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