Rattentanz
uns nicht vorberei ten, brauchen wir nicht jammern, wenn wir im Frühjahr alle verhungert und erfroren sind oder uns totgehustet haben.«
»Dazu wird es nicht kommen«, sagte Basler. Seine Nervosität war offensichtlich, immer wieder sah er auf die Uhr. Er wirkte unkonzentriert. »In Berlin ist man bestimmt schon viel weiter als wir hier, im hintersten Eck Deutschlands. Unsere Regierung arbeitet sicher schon auf Hochtouren. Es braucht eben seine Zeit, bis alle Gegenden erreicht sind.«
»So einen Blödsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört«, sagte Nussberger. »Du solltest dich besser nach einem anderen Job umsehen, ich jedenfalls wähle dich nicht noch einmal.«
»Glaubt mir doch. Vielleicht fliegen noch keine Flugzeuge, aber Strom haben die bestimmt schon wieder! Vielleicht funktionieren in Berlin bereits die Telefone und …«
»Nichts funktioniert.« Hans Seger hielt es in seinem Versteck nicht mehr aus. Als er anhören musste, mit welch billigen Lügen und Versprechungen Basler die Menschen in die Irre führen wollte, war er aus der Küche gekommen und stand nun hinter dem Tresen. Es dauerte einige Sekunden, bis man ihn erkannte.
»Mein Gott! Das ist Hans! Hans Seger!«
»Komm her! Lass dich umarmen!«
»Wir dachten, du bist in Schweden! Du warst doch in Schweden, als es passierte? Bist du den ganzen Weg hierher gelaufen?«
Hans Seger humpelte um den Tresen.
»Nichts von dem, was Roland euch verspricht, kann ich bestätigen«, sagte er, nachdem sich der erste Überschwang gelegt hatte. »Ich wünschte, ich könnte euch anderes berichten, aber es geht nicht. Alle Städte sind verlassen und rechts und links der Straßen stapeln sich die Leichen. Überall in Deutschland. Wer darauf hofft, dass jemand anders die Arbeit übernimmt, ist ein Narr. Zuerst dachte ich, es wäre ein Problem begrenzt auf Schweden oder Skandinavien, aber das ist es nicht. Es ist überall dasselbe. Irgendetwas oder irgendwer hat unserer Zivilisation das Rückgrat gebrochen und zwar gründlich.«
Früher hätte man dem Überbringer solcher Nachrichten den Kopf abgehackt, dachte Basler grimmig.
Das Nachdenken über Segers Worte hatte noch nicht richtig einge setzt, da wurden diese scheinbar schon Lügen gestraft. Ein Geräusch, seit Wochen nicht mehr gehört, näherte sich. War es das, wofür man es hielt? War es das wirklich?
»Na endlich«, murmelte Basler und sah auf die Uhr. Martin Kiefer hatte sich um acht Minuten verspätet.
Man hörte Kiefer lange, bevor man ihn sehen konnte. Der defekte Auspuff des alten Kleinwagens knatterte wie eine metallene Kinderrassel. Kiefer kam näher, jagte über die Wiesen, um die Straßensperren zu umfahren und aus der Kinderrassel wurde ein heiseres Dröhnen. Als er die enge Dorfstraße entlangschoss, warfen die Gebäude rechts und links der Straße das Dröhnen zurück. Kiefer hupte – jeder sollte ihn hören, alle sehen, wozu er fähig war.
Als Kiefer demonstrativ am Gasthaus Krone vorbeifuhr, waren bereits alle Fenster besetzt. Durch den zweiflügeligen Ausgang quollen Menschen. Hans Seger war vergessen.
Kiefer sah die Menschen mit Befriedigung. »Ja! Kommt nur raus aus euren Löchern, ihr primitiven Wichser! Ich bin da!« Er wendete vor der Kirche und raste zurück. Unmittelbar vor dem Gasthaus brach te er Sattlers knallroten VW-Polo zum Stehen, allerdings auf der anderen Straßenseite. Er brauchte Platz zwischen sich und den Menschen. Sie sollten ihn sehen und ihn hören, aber sie durften ihm nicht zu nahe kommen. Der Wagen gab einige Fehlzündungen von sich, Kie fer ließ den Motor noch einmal aufheulen und hupte wieder.
»Das ist doch ein Polo, oder? Gehört der nicht Georg Sattler?«, fragte Lydia Albicker.
»Nein. Der hatte kein Gewehr auf dem Dach.«
Der Anblick, den Martin Kiefer und sein Fahrzeug boten, erschien wie die schlechte Kopie eines noch viel schlechteren Films. Kiefer hatte die Kofferraumklappe des Kleinwagens abmontiert, ebenso Fahrerund Beifahrertür. Die getönte Scheibe im Dach, einmal Georg Sattlers ganzer Stolz, hatte er herausgeschlagen und auf dem Dach eine der Maschinenpistolen montiert, die er und Bubi in dem verunglückten Militärfahrzeug gefunden hatten. Auf dem Beifahrersitz lagen zwei frische Magazine, ein weiteres steckte in der Waffe. Kiefer trug Jeans und ein T-Shirt, von dem man nicht unbedingt behaupten konn te, dass es in letzter Zeit einmal gewaschen worden wäre. Es war von Kiefers Schweiß getränkt, unter den Achseln mäanderten diverse
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