Rattentanz
Hälfte fertig, als Eckard Assauer und Christoph Eisele auftauchten.
»Guter Platz«, nickte Assauer. Er nahm Hans die Schaufel aus der Hand, Eisele griff sich von Schwab die Hacke.
Dann kam Eugen Nussberger und auch er wollte helfen. Bea Baumgärtner kam zusammen mit der Haushälterin des Pfarrers. Auch sie stie gen in das Erdloch.
Thomas hatte sich nur mit Mühe von den aufgebahrten Toten im Gasthaus losreißen können. Jetzt saß er auf der Friedhofsmauer, im hintersten Eck unter einer ausladenden Kastanie, die sich von außen gegen die Mauer lehnte und weit über die Gräberreihen ragte. Schon oft hatte man Anläufe unternommen, den uralten Baum zu fällen. Regelmäßig spalteten die fallenden Herbstblätter die Gemeindemitglieder in zwei Parteien. Die einen fanden die Kastanie schön. Das waren die, deren Gräber am anderen Ende des Friedhofes lagen. Die anderen ärgerten sich jeden Herbst über fallendes Laub, welches ihren Grabschmuck verbarg, über Unmengen Kastanien und, im Schlepptau der Flut brauner Kugeln, über Kinder, die auf der Suche nach den Früchten ohne Rücksicht über die Gräber trampelten. Thomas liebte diesen Platz auf der Friedhofsmauer. Die starken Zweige des Baumes lagen auf dem Sims auf und dichtes Laub verbarg ihn hier vor den meisten neugierigen Blicken. Er beobachtete, wie Menschen einzeln, seltener paarweise oder zu dritt, aus dem Dorf heraufkamen und wie einer dem anderen das Arbeitsgerät aus der Hand nahm und in Fausts künftiges Grab stieg. War das so, dass man sich zuerst feige versteckte und anschließend, wenn es längst zu spät war, die fröhlich keimende Reue durch überflüssige Taten versuchte, zu bekämpfen? Thomas wusste keine Antwort, auch die Stimmen in seinem Kopf konnten sich auf keinen vernünftigen Konsens einigen. Thomas sah sogar Eva kurz ins Grab steigen, die Krankenschwester, der er so viel zu verdanken hatte. Thomas suchte den Pfarrer, konnte ihn aber nirgends entdecken. Wahrscheinlich war er noch bei den Toten. Lea war auch hier. Sie stand neben ihren Eltern am Grab. Es war gut, dass ihr Vater wieder bei ihr war. Lea winkte ihm zu und Thomas winkte zurück. Morgen, hoffte Thomas, morgen würden sie wieder gemeinsam mit den Tieren auf die Weiden ziehen und die Welt wäre wieder in Ordnung.
Eva kam zwischen den Gräberreihen zu Thomas herüber. Sie streck te ihm die Hand entgegen. »Komm. Du kannst auch helfen. Frieder Faust hat viel für uns alle getan. Es wird ihm gefallen, wenn er sieht, dass du an seinem Grab hilfst.«
»Kann … kann er mich denn sehen?« Thomas sah sich um, blieb aber sitzen. Es widerstrebte ihm, seinen sicheren Ausguck zu verlassen und unter Menschen zu gehen. Eva zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ahnung, ob er uns jetzt zusieht. Aber ich finde es eine schöne Vorstellung, dass er bei uns ist.«
»Aber er liegt doch tot auf dem Tisch«, sagte Thomas.
»Sein Körper schon. Aber was aus seiner Seele wird …« Sie ließ
den Satz unvollendet.
Dann kommen wir ja doch noch nach Paris, flüsterte Nummer zwei. Wenn wir tot sind, fliegen wir gemeinsam nach Paris, ja? Nummer drei hatte offenbar einen neuen Anhänger gefunden. Thomas sprang von der Mauer und ging hinter Eva her zu Fausts Grab. Fräulein Guhl kletterte gerade aus der Grube und hielt Thomas die Schaufel hin. Thomas ignorierte die Schaufel und blickte zu Boden. Erst als Lea die Schaufel nahm und ihm hinhielt, klemmte er sich die schwarze Aktentasche unter den Arm, nahm das Werkzeug und stieg in das Grab.
Halleluja!, schrie Nummer drei sofort. Leg uns hin! Schnell, auf den Bauch! Oder nein, besser auf den Rücken, dass wir die Gesichter sehen und die Erde, die auf uns rieselt, wenn sie das Grab verschließen. Bitte, leg uns hin. Wir sind sooo nahe, so nah waren wir unserem Ziel noch nie! Waren wir doch, widersprach Nummer zwei. Im Aufzug. Und oben auf dem Berg, als der Polizist starb. Und … Bitteee.
Aber Thomas ignorierte das Flehen. Umständlich, die Tasche unter seinem Arm behinderte ihn, warf er zwei, drei Schaufeln Erde aus dem Loch, dann streckte Assauer ihm die Hand hinunter und half ihm heraus. Eine Stunde später kam der Trauerzug aus dem Dorf herauf. Zuerst versammelte man sich an Isabell Dörflingers Grab, dann wurde Frieder Faust zur letzten Ruhe gebettet. Mit Ausnahme von Uwe und Lisa Sigg hatte sich das gesamte Dorf versammelt. Nachdem der Pfarrer eine kurze Predigt gehalten hatte, wollte Roland Basler etwas sagen, aber Eckard Assauer hielt ihn am Arm
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