Rattentanz
zurück und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen. Basler blieb stumm. Susanne Faust verfolgte die Beerdigung teilnahmslos. Bubi hielt ihren Arm. Aber er konnte ihr nicht den Halt geben, den Frieder ihr ein halbes Leben lang gegeben hatte. Die Kirchenglocke läutete, auf das Tuch, welches Fausts Gesicht verbarg, fiel Erde. Dann gingen die Menschen auseinander.
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19. August, 07:00 Uhr, Wellendingen
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Das Geräusch, das Eva weckte, erinnerte sie an etwas. Irgendetwas daran kam ihr bekannt vor. Müdigkeit und ein Traum, der noch wie ei ne klebrige Spinnwebe in ihrem Kopf hing, verhinderten, dass sie dieses Geräusch sofort identifizieren konnte. Es war Mitte August und Frieder auf den Tag genau vier Wochen tot. Neben ihr lag Hans und schlief. Auch er hatte seine Haare schneiden müssen. Nach Kiefers Überfall war das Dorf für Tage einer Art kollektiver Trance verfallen. Das Zögern eines Großteils ihrer Gemeinschaft, Eva gegen einen Kleinwagen voller Lebensmittel einzutauschen, nagte bis heute am Selbstbewusstsein fast aller. Die wenigen, die Kiefer versucht hatten, die Stirn zu bieten, wussten, dass ihr Verhalten sie nicht zu besseren Menschen machte. Sie alle hatten diesen Tag zugelassen. Hans hatte als einer der Ersten zur Tagesordnung zurückgefunden. Er half auf den Feldern und war schon bald derjenige, dem Frieder Fausts Rolle zufiel. Hans wurde um Rat gefragt, wenn es um den Bau von Dreschflegeln ging, mit denen das Korn aus den geernteten und trockenen Ähren gelöst werden konnte. Hans hatte auch die Idee mit der Ewigen Flamme, wie das kleine Lagerfeuer in der Dorfmitte bald genannt wurde. Als Feuerzeuge und Streichhölzer zur Neige gingen und es immer öfter vorkam, dass jemand bei seinem Nachbarn klopfte und um etwas Glut bat, entzündete Hans gemeinsam mit Jürgen Mett müller ein kleines Feuer neben dem Ehrenbach. Hans teilte zwei Halbwüchsige zur Feuerwache ein. Ihre Aufgabe war es, die Flamme am Leben zu erhalten und den dicken Baumstamm, der quer in dem Feuer lag, Stück für Stück weiterzuschieben. Hierher konnte fortan je der kommen, wenn der eigene Herd kalt war.
Zu Hans kam man auch, um nach dem Stand der Arbeiten am Wind rad zu fragen, ihn bat man um Rat, wenn es untereinander Probleme gab. Aber seit Fausts Tod waren solche Probleme selten. Als ob die Scham über das eigene Tun alle ein wenig friedlicher und hilfsbereiter gemacht hätte. Kurz nach Fausts Beerdigung war eine kleine, aber offizielle Abordnung aus Bonndorf in Wellendingen erschienen. Sie trugen eine weiße Fahne. Die Schüsse vor dem Gasthaus und das anschließende Glockengeläut hatte der Wind ins nur drei Kilometer entfernte Bonn-dorf getragen und dort zu einigem Rätselraten geführt. So hatten Fausts und Isabell Dörflingers Tod doch noch etwas Gutes bewirkt. Den Kontakten nach Bonndorf folgten bald ebensolche in die umliegenden Dörfer. Hans organisierte einen Tausch zweier Kühe gegen zwei Arbeitspferde. Fortan war der Getreidetransport fast eine Kleinigkeit und auch die Arbeiten im Wald gingen nun bedeutend zügiger voran. Über den Rat wurde nicht mehr gesprochen. Basler spielte zwar offiziell noch das Oberhaupt, Hunger und der Druck der Gemeinschaft zwangen ihn und seine Frau aber, sich in den Tross der Arbeitenden einzuordnen; Rike in Albickers Stall, Roland Basler zuerst im Wald und als ihm dies zu schwer wurde, half er auf den Feldern. Wie von Bas ler vor vier Wochen vorgeschlagen, wurde tatsächlich ein Großteil der Felder Wellendingens nach Bonndorf verpachtet. Als Pachtzins vereinbarte man ein Viertel der Ernte. Das sicherte den Bonndorfern ihr Überleben und spülte in Albickers Scheune und Silo ordentlich Vor räte.
Der Hochsommer meinte es gut mit den wenigen Menschen, die den 23. Mai und seine Folgen überstanden hatten. Es gab weder länger anhaltende Trockenperioden noch zu viel Kälte, Stürme oder Gewitter. Die Obstbäume des Ortes brachen unter der Last von Pflaumen, Birnen und Äpfeln schier zusammen und die Spanne zwischen Sonnenauf-und Sonnenuntergang reichte kaum aus, all die anfallenden Arbeiten zu erledigen, Arbeiten, die auch kaum noch jemand gewohnt war. Obst wurde eingekocht und, als keine Gummiringe mehr auffindbar waren, zu Saft verarbeitet oder in der Sonne getrocknet. Eugen Nussberger war einer der wenigen im Ort, der schon immer seine Sämereien selbst gezogen hatte. Jetzt wollte jeder von ihm wissen, wie man an Lauch-oder Kohlrabisamen kam, welche Kartoffeln am besten fürs
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