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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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einzusperren, zu ernähren, zu kleiden, auf seine Gesundheit zu achten?«
    »Niemals!«, rief Eisele.
    »Was also dann?«, fragte Hans. »Wir müssen ihn bestrafen. Angemessen bestrafen, das sind wir Frieder schuldig. Und Eva«, fügte er mit einem Blick auf seine Frau hinzu.
    Basler fühlte sich nicht sonderlich wohl in dieser Runde. Pro forma war er zwar noch der Ratsvorsitzende, aber inzwischen gab kaum noch jemand etwas auf seine Meinung. Es war ein Wunder, dass Hans ihn überhaupt zu dieser Besprechung eingeladen hatte. Obwohl Hans sich niemals einer Abstimmung hatte stellen müssen, hatte er – in stillem Einvernehmen mit, wie es schien, dem kompletten Dorf – Baslers Führungsposition eingenommen. Aber Basler war schlau genug, dies im Moment zu akzeptieren. Es gab gerade Wichtigeres. Zum Beispiel, wie er Kiefer loswerden konnte, ohne dass dieser vorher noch einmal die Möglichkeit zu einer Aussage erhielt. Und sollte doch etwas von seinen, Baslers, Verstrickungen durchsickern, musste Martin Kiefer unglaubwürdig erscheinen, ein von Rachsucht und Hass verbogener Lüg ner. Deshalb hatte er in letzter Zeit seine Geschichte über Kiefer lanciert.
    »Stimmt es, Roland, dass Kiefer dich noch ein paar Tage vor seiner Tat nachts besucht hat?«, fragte Hans unter Anspielung auf eben diese Geschichte.
    Basler mimte den unangenehm Berührten. Er rutschte auf seinem Stuhl erst nach vorn, dann wieder zurück. Alle sahen ihn an, jeder hat te die Geschichte inzwischen gehört und wollte nun endlich aus erster Hand erfahren, was wirklich geschehen war.
    »Ja«, sagte Basler. »Er klopfte mitten in der Nacht an unsere Fenster. Ich hab ihm nicht geglaubt, dass er nur so vorbeigekommen war. Er hatte eine Flasche Wein und ein paar Lebensmittel dabei, die wir aber ausgeschlagen haben. Er soll sie zu denen bringen, die sie wirklich brauchen, habe ich noch gesagt. Ich überlege heute noch, was er wirklich wollte. Er hatte keine konkreten Fragen gestellt, nicht einmal, wie es Eva geht.«
    »Also weißt du nicht, was er wollte?«, fragte Hans.
    »Sag ich doch. Es war wie ein Traum: Kiefer klopfte ans Fenster, dann ein paar belanglose Worte an der Haustür und schon war er wieder verschwunden.«
    Eckard Assauer goss sich Tee nach und gab etwas Honig hinzu. Andächtig rührte er um.
    »Wenn wir ehrlich sind«, sagte er endlich in die Ratlosigkeit nach Baslers Worten, »wenn wir ehrlich sind, spielt es doch keine Rolle mehr, was er wirklich von Roland Basler wollte. Wir haben Tatsachen und wir haben einen Gefangenen.«
    »Den wir bestrafen werden.« Eisele hatte sichtlich Mühe, seine Wut zu bändigen. »Er hat es verdient. Wir müssen ihn verurteilen, je schnel ler, desto besser.«
    »Und wie soll die Bestrafung aussehen?«, fragte Assauer. »Sollen wir ihm die Zunge herausreißen? Oder die Hände abhacken? Ihn hinrichten? Wollen wir das, wenn wir von Bestrafung reden? Wir könn- ten ihn auch auspeitschen oder kastrieren oder brandmarken – alles Be strafungen, wie sie im Mittelalter gang und gäbe waren. Aber können wir das auch? Ich meine, können wir unsere Gedanken in die Tat umsetzen − und, wenn ja, wer soll das Urteil vollstrecken?«
    »Wenn man dich so reden hört, könnte man meinen, du stehst auf Kiefers Seite und nicht auf unserer«, sagte Bea. »Willst du uns die Sache ausreden?«
    »Natürlich nicht. Das Problem, das wir jetzt vielleicht noch nicht in seiner Gänze sehen oder unterschätzen ist, dass wir, egal wie wir entscheiden, mit diesem Urteil leben müssen. Wir, unser Gewissen und all die Menschen nach Kiefer, die denken, diese Zeit gehört dem, der sie sich nimmt. Wir stellen hier gerade Weichen. Nicht nur für Martin Kiefer, vor allem stellen wir die Weichen für unsere zukünftige Ge sellschaft. Diese Entscheidung ist zu schwerwiegend, um von einer Handvoll Frauen und Männer allein gefällt zu werden. Vor allem aber ist sie zu schwerwiegend, als dass sie von nur einem halben Dutzend Menschen verantwortet und ertragen werden kann.« Assauer lehnte sich zurück und hielt sich weiter an seinem Teeglas fest. Die anderen schwiegen betroffen. Von dieser Seite aus hatten sie es bisher noch nicht gesehen. Es war leicht, nach Kiefers Verurteilung zu schreien, oh ne ein konkretes Bild vor Augen zu haben und, natürlich, wer sollte dieses Urteil vollstrecken? Jeder hier war gewohnt, dass eine dritte Instanz Straftäter verfolgte und verurteilte und das Strafmaß war eine in Dutzenden Bänden niedergeschriebene Wahrheit,

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