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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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sie die Sicherheit des eigenen Hauses vor. Sie schloss die Tür hinter Hans ab und legte sich hellwach ins Bett. Eckard Assauer eröffnete die Verhandlung. Er schien am ehesten zur Neutralität fähig. Als er sich erhob und zum Tresen ging, wurde es augenblicklich still.
    »Ich hätte es lieber«, begann er, »wenn wir heute hier zusammensäßen, um uns über Christian Stadlers Meisterleistung zu freuen und ihm dafür zu danken.« Alle Blicke gingen zu den kleinen Leuchtern über den Tischen. Sie verströmten warmes Licht, mal etwas stärker, dann wieder schwächer. Aus dem Publikum kamen Bravorufe und tosender Applaus. Obwohl ihm in den vergangenen Tagen schon jeder mindestens einmal gratuliert und voller Anerkennung auf die Schulter geklopft hatte, war Stadler augenblicklich von Händeschüttlern um ringt. Unter Stadlers Leitung hatten sie gemeinsam die erste große Meisterleistung des neuen Zeitalters geschafft. Man war stolz auf ihn und man war mindestens ebenso stolz auf die eigene Leistung, die Stadlers Arbeit erst möglich gemacht hatte. Elektrizität war ein Symbol, mehr nicht. Stromspannung und die Zahl der abnehmenden Geräte waren viel zu schwankend, um eine konstante Stromversorgung zu ermöglichen. Aber darum ging es auch gar nicht. Es war ein erster Schritt nach vorn in die Vergangenheit. Der gemeinsame Jubel schweißte sie zusammen. Als es wieder still war, ging Assauer zu Susanne Faust. Die saß steif und mit Tränen in den Augen auf einem Stuhl, die Hände im Schoß
    und sah zu Boden.
    »Wir wissen alle, was sich vor fast fünf Wochen genau hier abgespielt hat. Martin Kiefer (Buh-Rufe) sitzt seitdem hier unten im Keller.«
    »Bring ihn raus! Wir erledigen ihn gleich hier!«, rief jemand und erntete Beifall.
    Assauer breitete beide Arme aus und sorgte wieder für Ruhe.
    »Eben das ist das Problem.«
    »Wo ist da ein Problem?«, kam es vom selben Rufer. »Kiefer hat den Tod verdient und den soll er haben!« Wieder Beifall. Diesmal dauerte es etwas länger, bis Assauer weitersprechen konnte. »Wenn wir beschließen, dass Martin Kiefer mit dem Tod bestraft werden soll, dann wird es so sein. Aber dies müssen wir beschließen. Wir können ihn nicht aus dem Keller zerren und steinigen, auch wenn das wahrscheinlich am ehesten unserer Gemütslage entspräche. Wenn wir so handeln, sind wir keinen Deut besser als Leute wie Martin Kiefer. Wir leben nicht im Mittelalter, auch wenn vieles von den neuen Lebensumständen darauf hindeutet. Wir kommen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, leben im Herzen Europas. Wir haben Traditionen und Werte, die wir beibehalten müssen.«
    »Müssen wir das wirklich?«, kam es aus dem Saal. »Müssen wir wieder alles regeln und festschreiben? Warum erst lange reden, wenn doch alles klar auf der Hand liegt? Wieso braucht dieser Bastard eine Verhandlung? Hatte Faust eine Verhandlung?«
    »Die Verhandlung ist weniger für den Angeklagten. Sie ist für uns.« Assauer musste die Stimme erheben, um die Unruhe im Saal zu übertönen.
    »Soll ich Kiefer jetzt holen?«, fragte Eisele leise.
    »Bloß nicht! Wenn wir ihn jetzt hereinführen, reißen sie ihn in Stü cke«, flüsterte Assauer zurück.
    Eisele setzte sich und Assauer ging in die Mitte des Saales. Laut sag te er: »Wir entscheiden heute, ob wir uns an allgemeingültige Normen halten werden oder ob jeder nach Gutdünken handeln und verurteilen kann, wie es ihm gerade passt. Natürlich werden wir andere Urteile fällen als die, welche bisher Usus waren. Wir haben weder Gefängnisse noch Psychiatrien. Aber es muss jedem im Saal bewusst sein, dass unser Urteil ein gemeinsames Urteil ist, dessen Vollstreckung auf jedem von uns lastet. Überlegt genau, bevor ihr nach Hinrichtung und Steinigung ruft, ob ihr morgen mit dieser Tat leben könnt. Darum geht es.«
    Im Saal wurde es still. Vielen sickerte erst jetzt die Tragweite dieses Tages ins Bewusstsein. Als sie begriffen, dass sie persönlich es wa ren, sie und die Frauen und Männer neben ihnen, die über Leben und Tod entscheiden würden, stellte sich ein flaues Gefühl in der Magenge gend ein. Andererseits war Kiefers Verbrechen derart kaltblütig und brutal gewesen, war die Erinnerung daran noch so frisch, dass kaum einer im Saal an der Rechtmäßigkeit eines Todesurteils zweifelte. Aber es waren eben zwei Paar Schuh, der Ruf nach einer Verurteilung und die Ausführung dieses Rufes. Ratlosigkeit.
    Da erhob sich der Pfarrer. Er ging zu Assauer. »Ich weiß, dass Sie sich die Sache

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