Rattentanz
die man nur nach schlagen brauchte. Das Schöne an diesem System: niemand mach te sich die Hände schmutzig. Aber diese Art der Bestrafung gehörte dem Gestern an, heute war alles anders.
»Ich habe mir früher oft gewünscht, Kinderschänder oder Mörder sollten an einen Pfahl gebunden und dem Mob überlassen werden«, sagte Christoph Eisele. Assauers Worte hatten seine Wut gebändigt.
»Es hat mich immer aufgeregt, dass solche Leute nur weggeschlossen werden und nach ein paar Jahren wieder rauskommen. Was ist das für eine Strafe, bei der das ganze ungelebte Leben eines Kindes, vielleicht siebzig oder achtzig Jahre, wenn’s gut geht, mit ein paar Lebensjahren des Mörders verrechnet wird? Ist ein Kinderleben so wenig wert?, habe ich mich immer gefragt. Von den Schmerzen und der Todesangst, die das Kind in seinen letzten Stunden erleiden musste, ganz zu schweigen. Ich verstehe, wenn Eltern den Täter im Gerichtssaal erschie ßen. Vielleicht hätten wir es mit Kiefer ebenso machen müssen.«
»Wie?«
»Wir hätten ihn am selben Tag noch, sozusagen im Affekt, erschie ßen oder erschlagen sollen. Jetzt haben wir das Problem, dass wir denken und uns der Konsequenzen dessen, was wir entscheiden, bewusst sind.«
»Entscheiden werden wir gar nichts«, sagte Hans Seger. »Wir haben nicht das Recht, Martin Kiefer im Alleingang abzuurteilen.«
»Warum sind wir dann hier?«, fragte Basler.
»Ich wollte mit euch besprechen, wie es weitergeht. Irgendwann mussten wir das Thema angehen, warum also nicht heute?«
»Und wie geht es jetzt deiner Meinung nach weiter?«, fragte Eisele. Hans Seger hob ratlos die Hände.
»Darf ich antworten?«, fragte Assauer. Hans nickte und war Assauer dankbar. »Das Urteil über Martin Kiefer ist das erste Urteil, das wir hier im Dorf fällen. Vielleicht werden wir uns später einmal eine Art Gericht zulegen, das über kleine und große Vergehen berät und angemessene Bestrafungen findet, dies wäre jedenfalls der normale Lauf der Geschichte. Dieses erste Urteil aber muss von allen gemeinsam gefällt und getragen werden. Wir dürfen uns hier nicht auf einen Alleingang einlassen oder die anderen im Ort für nicht urteilsfähig an sehen. Jeder ist mehr oder weniger betroffen. Jeder kennt Kiefer, je der kennt Eva und dich, Hans. Jeder kannte Frieder Faust und Isabell Dörflinger. Fast jeder hat die Sache vor der Krone mit eigenen Augen gesehen. Keiner darf hinterher zu seinem Nachbarn sagen können: Ihr habt ihn verurteilt. Wir müssen gemeinsam ein Urteil finden und dieses dann auch gemeinsam vollstrecken. Wir müssen uns aber auch bewusst sein, dass es sich um eine Hinrichtung handeln kann.«
Bei Einbruch der Dunkelheit verließen die Mitglieder des Rates Eva und Hans Seger. Am kommenden Freitag, also schon in fünf Tagen, sollte im Gasthaus Krone von allen Einwohnern Wellendingens über Martin Kiefers Zukunft beraten werden.
Am nächsten Morgen war Roland Basler ausnehmend früh unterwegs. Obwohl er für landwirtschaftliche Arbeiten eingeteilt war, ging er geradewegs zum Treffpunkt der Waldarbeiter. Er tat so, als sei er rein zufällig vorbeigekommen, erzählte brühwarm die Nachricht von der bevorstehenden Gerichtsverhandlung und, als Bubi als einer der Letzten erschien, nahm er diesen zur Seite.
Bubis Tage als Wächter des Dorfes waren vorüber. Nach Kiefers Festnahme und den im Anschluss zustande gekommenen Kontakten mit den Nachbargemeinden wurde Bubis Aufgabe überflüssig und er, nach zwei Tagen Ruhepause, zur Arbeit im Wald eingeteilt. Die Arbeit war schwer, vor allem für einen jungen Mann, der seit Jahren seine Zeit nur mit Schlaf, Computer und Fernsehen verbracht hatte. Aber frische Luft und das abendliche Gefühl, endlich einmal etwas wirklich Nützliches getan zu haben, gaben ihm die Kraft, seine ungezählten Schwielen, Rückenschmerzen und kleineren Blessuren zu überstehen. Jetzt tat er wirklich etwas für die Allgemeinheit, ohne Hintergedanken, ohne doppelten Boden. Bubi war froh, dass er sich nicht mehr mitten in der Nacht zu seinen Treffen mit Martin Kiefer aus dem Dorf schleichen musste und wenn er am Abend von Arbeit halb betäubt in sein Bett und einen traumlosen Schlaf fiel, war er viel zu erledigt, um über Kiefers Zukunft nachzudenken. Er erstickte seine Schuldgefühle am Tod des Vaters ebenso wie seine Angst vor dem, was Kiefer vielleicht erzählen könnte. Einmal hatte er einen Anlauf unternommen und wollte seiner Mutter die eigene Beteiligung an allem erzählen.
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