Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
Vom Netzwerk:
nicht leicht machen«, sagte er zu ihm. Dann wandte er sich an alle im Saal. »Aber ich vermisse ein kleines Wort, das bisher noch niemand hier in den Mund genommen hat.« Er legte eine sehr effektvolle Pause ein und sah fast jedem der Anwesenden in die Au gen, bevor er fortfuhr: »Gnade. Keiner von euch …« Kühne wurde von wütendem Protest unterbrochen. Mehrere Männer sprangen auf, jemand schlug auf einen Tisch, Stühle wurden gerückt.
    »Bitte!«, riefen Assauer und Hans gleichzeitig. »Lasst ihn aussprechen. Jeder soll sagen, was er denkt.«
    »Aber Gnade für Kiefer! Das ist ja wohl das Letzte!«
    »Das mag deine Meinung sein«, sagte Hans.
    Eugen Nussberger erhob sich, schnäuzte in sein kariertes Taschentuch und es wurde still.
    »Bei allem Respekt, Herr Pfarrer, und ich respektiere Sie und Ihre Arbeit wirklich, rollen sich mir bei der Vorstellung, Kiefer laufen zu lassen, die Fußnägel auf.«
    »Nicht nur dir, Eugen. Nicht nur dir.«
    »Im Neuen Testament«, unternahm der Pfarrer einen zweiten Anlauf, »steht nichts von Todesstrafe. Vergebung kostet viel mehr Kraft als blinde Selbstjustiz. Wir nennen uns Christen, oder?« Niemand widersprach. »Die Säulen des Christentums sind Liebe, Vergebung, Gewaltlosigkeit. Natürlich werden wir niemals die Kraft aufbringen, die Jesus hatte, als er seinen Henkern vergab, aber wir können es wenigs tens probieren.«
    »Können Sie den Mörder meines Mannes laufen lassen?« Susanne Faust hatte sich erhoben. Alles an ihr war Trauer.
    »Wir sind Christen. Wir …«
    »Sagen Sie mir, ob sie ihn freilassen können«, beharrte Susanne. Kaum einer hätte ihr diese Frage zugetraut.
    »Ja«, sagte der Pfarrer leise.
    »Und Sie können auch damit leben, dass Kiefer vielleicht nach Wittlekofen oder Stühlingen geht und dort alles von Neuem beginnt? Was ist, wenn er zurückkommt und noch einmal bei Eva einbricht? Was ist, wenn er noch jemanden tötet? Könnten Sie mit dieser Schuld leben?«
    »Das weiß ich nicht«, sagte der Pfarrer. »Aber ich weiß, dass ich nie mals einen Menschen zum Tode verurteilen könnte. Ich kann es nicht, auch wenn in mir alles danach schreit. Ich habe seit Frieders Tod Gott jeden Tag um Weisheit gebeten, um ein Zeichen, einen Ausweg. Ich bin Christ und als solcher fällt es mir schwer, ein anderes Geschöpf Gottes zu verurteilen und zu richten.«
    »Kiefer hatte dieses Problem nicht«, sagte Hans Seger. Seine Hände zitterten, er hatte Mühe ruhig zu bleiben. So sehr er den Pfarrer als Mensch auch mochte, dessen Gerede von Gnade und Nächstenliebe gehörte in die Kirche und nicht in die Verhandlung über Kiefer!
    »Das ist richtig, Martin Kiefer hatte dieses Problem nicht. Aber da für wird Gott ihn richten. Ihm ist er Rechenschaft schuldig, nicht dir oder mir.«
    »Und so lange darf er also noch frei umherlaufen und weitermorden?«, fragte Uwe Sigg. Der Pfarrer hob beide Arme zum Zeichen seiner Ratlosigkeit und ließ sie wieder sinken. »Ich kann nur wiederholen: Ich bin nicht in der Lage, zu richten. Aber ich werde auch keinen von euch verurteilen, wenn die Versammlung zu einer anderen Entscheidung kommt.«
    Nachdem Kühne sich gesetzt hatte, herrschte im Saal Stille. Eckard Assauer räusperte sich. »Wie ihr seht, ist es gar nicht so einfach, über einen Menschen im wirklichen Leben zu richten. Aber es geht nun einmal nicht anders.« Er ging zum Tresen, wo Eisele, Stadler und Schwab warteten. »Zu einer ordentlichen Verhandlung gehört auch, dass der Angeklagte selbst zu Wort kommen darf.«
    »Wozu denn das?«, rief Roland Basler. »Es liegt doch alles ganz klar auf der Hand!«
    »Du als Anwalt, du solltest doch am ehesten die gängigen Gepflogenheiten einer Gerichtsverhandlung kennen«, sagte Hans Seger.
    »Aber wir haben doch alle gesehen, was Kiefer getan hat.« Basler wollte nicht aufgeben. »Soll Susanne alles noch einmal erleben müssen?«
    »Er hat recht. Lasst ihn in seinem Loch. Wir holen ihn, wenn wir wissen, was wir mit ihm machen.«
    »Das werden wir nicht!«, sagte Assauer. Dann drehte er sich zu Susanne um. »Es tut mir leid. Wenn du es nicht erträgst, kannst du draußen warten.« Susanne nickte, stand auf und ließ sich von Bubi vor die Tür führen.
    Als Bardo Schwab Martin Kiefer, gefesselt und mit einem Strick um den Hals wie ein Tier, aus dem Keller holte und hinter den Tresen führte, wäre die Situation um ein Haar eskaliert. Etliche sprangen auf, es wurde geschrien und einige Aschenbecher und Blumenvasen, die noch immer auf

Weitere Kostenlose Bücher