Rattentanz
den Tischen standen, flogen Richtung Kiefer. Erst als sich Assauer, Eisele und Stadler schützend vor den Delinquenten stellten, war damit Schluss. Aber die Rufe blieben.
»Verrecken sollst du Schwein!«
»Du wirst gleich sehen, was wir mit so was wie dir machen!«
Bardo Schwab war am Nachmittag die unangenehme Aufgabe zugefallen, Kiefer zu waschen und ihm frische Kleider anzuziehen. Kiefer selbst ließ alles mit einem düsteren Lächeln über sich ergehen. Er sagte kein Wort, fragte nicht, was man mit ihm vorhatte und stand auch jetzt, als ginge ihn das alles nichts an, an seinem Platz und wartete. Von Eisele und Stadler flankiert, mit gefesselten Händen und Fü ßen, musterte er die Anwesenden. Er kannte jeden Einzelnen von ih nen. Dies also, dachte er, ist der kümmerliche Rest, der eine neue Weltordnung errichten soll. Er hatte Mitleid mit diesen hilflosen Gestalten, die nicht erkannten, welche Chance ihnen die sogenannte Katastrophe bot. Kiefer war überzeugt, dass er der Einzige hier im Raum war, der den 23. Mai ganz klar als das sehen konnte, was er in Wirklichkeit war: der Beginn des wahren Zeitalters. Nur er wäre in der Lage, diese Menschen zum wahren Leben hinzuführen. Sie brauchten alle Führung, einen starken Mann, der sich vor sie stellte und ih nen sagte, wer gut, wer böse, was falsch und was richtig war. Der Durchschnittsmensch – und ihn selbst ausgenommen, war hier alles nur Durchschnitt – war von sich aus nun einmal nicht in der Lage, klarzusehen. Die tumbe Mas se brauchte Führung! Ein wirklich starker Mann war dazu vonnö ten, nicht diese verweichlichten Demokraten, die hier das Wort führten. Er hätte es sein können.
Es gab einige, die er vermisste: Frieder Faust zum Beispiel und Hildegund Teufel, Bubi, Susanne und …
Eva!
Als Martin Kiefer Evas Fehlen bemerkte, wurde er unruhig. Seine zur Schau gestellte Würde fiel wie eine zweite Haut von ihm ab. Zum Vorschein kamen nervöse Augen, die den Saal absuchten. Er fiel in sich zusammen, die Schultern hingen plötzlich und sein Mund blieb halb offen stehen.
»Eva?« Es wurde mit einem Schlag ruhig im Saal. »Eva, wo bist du, meine Schöne? Komm, zeig dich mir.«
»Haben Sie zu dem, was am 22. Juli diesen Jahres hier vor dem Gasthaus Krone geschah, etwas zu sagen?«, fragte Assauer. Kiefer starrte ihn einen Moment an, als könne er den Sinn der Fra ge nicht verstehen, dann eilte sein Blick wieder davon. »Eva. Ich bins, dein Mann. Lass uns …«
»Geben Sie zu, dass Sie versucht haben, Eva Seger zu entführen?«
»… glücklich. Nur du und ich. Und …«
»Haben Sie etwas zu den Morden an Isabell Dörflinger und Frieder Faust zu sagen?«
Faust war tot? Faust war tot. Es gab Wichtigeres. »Wo steckst du, meine Liebe? Ich will mit dir weggehen. Weit weg. Ganz weit weg.«
Die Verhandlung, vor allem aber die Urteilsfindung, zog sich bis weit nach Mitternacht hin. Allein Christian Stadlers Stromversorgung und einem gnädigen Westwind war es zu verdanken, dass die Verhand lung nicht vertagt werden musste, sondern am 25. August um zwei Uhr dreizehn zu einem Ende kam.
Martin Kiefer wurde unter lang anhaltendem Jubel zum Tode durch den Strang verurteilt. Das Urteil sollte in den Abendstunden dieses 25. Augusts vollstreckt werden.
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25. August, 14:30 Uhr, Wellendingen
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Henning Malow erreichte Wellendingen gerade noch rechtzeitig. So konnte er Hans Seger und Silvia vom Ergebnis seiner Reise nach Bad Dürrheim berichten, bevor Kiefers Hinrichtung alles andere in den Schatten stellen würde.
Henning Malow und seine zwei Begleiter waren ohne Probleme nach Bad Dürrheim gelangt. Sie waren nicht die Ersten, die um Salz baten. Überall hatte man die gleichen Probleme: die Salzvorräte gingen zu Ende, Speisen schmeckten fade, Fleisch und Fisch konnte nicht gepökelt werden und, nachzulesen in jedem Heilkundebuch, sollte das Problem über längere Zeit Bestand haben, warteten auf die Menschen Mangelerscheinungen wie Übelkeit, Krämpfe, Austrocknung und Kreislaufbeschwerden bis hin zum Kollaps.
In Bad Dürrheim reagierte man auf die Nachfragen aus den Umlandgemeinden. Als Malows Delegation in dem kleinen Ort eintraf, war er überrascht, dass weit und breit nichts auf eine normale Landwirtschaft hindeutete. Im Gegenteil, die Menschen hatten ihr Vieh ein getauscht und konzentrierten sich ausschließlich auf die Salzgewinnung. Das aus den Tiefen unter der ehemaligen Kleinstadt geschöpf te salzhaltige Wasser wurde auf Wiesen geleitet, wo
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