Rau ist die See ...
Roulette – es gibt kein Glücksspiel, von dem er die Finger lassen kann. Er setzt hohe Summen, und gelegentlich gewinnt er auch mal etwas. Aber auf lange Sicht machen eben nur die Casinos und Spielclubs den Reibach, und das können und wollen diese Spielernaturen nicht begreifen. Jedenfalls scheint er öfter zu verlieren, als zu gewinnen. Ein Schiffsoffizier auf der MS Kyrene verdient nicht schlecht, jedenfalls besser als ein Kabinensteward. Aber bei den Summen, um die es beim Glücksspiel geht, ist Nelligans Gehalt jeden Monat innerhalb weniger Tage futsch.“
Henry zuckte die Schultern. „Also muss er sich Geld leihen, um weiterzocken zu können. Das bekommt er natürlich nur von Kredithaien, weil er eben schon so hoch verschuldet ist. Keine Bank würde ihm auch nur einen müden Penny geben. Und Kredithaie verstehen keinen Spaß, das hast du wahrscheinlich auch schon gehört. Wenn du bei denen deine Schulden nicht pünktlich zahlst, kannst du deine Knochen nummerieren.“
„Du weißt ja ziemlich viel über Nelligan.“
„Wissen ist zu viel gesagt.“ Er grinste. „Das sind alles nur Gerüchte. Und an Bord hat Nelligan wohl kaum Gelegenheit zum Spielen, falls es nicht irgendwo in einer Kabine eine heimliche Pokerrunde gibt.“
Aufmerksam sah er sie an. „Aber mir ist immer noch nicht klar, warum du ihn in Verdacht hast.“
„Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen, Henry. Bitte habe Vertrauen zu mir.“
Er nickte und gähnte verhalten. Erst jetzt wurde Jade bewusst, wie spät es bereits war. Sie musste versuchen, wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Sonst würde sie am nächsten Tag völlig erschöpft sein.
Sie stand auf, bedankte sich bei Henry und hauchte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange.
Als sie wenig später allein in ihrer Kabine war, fühlte Jade sich nicht gerade wohl in ihrer Haut. Es war noch nicht lange her, dass ein Einbrecher ihre sämtlichen Sachen durchwühlt hatte. Was sollte sie tun, wenn er zurückkam? Wenn er sie im Schlaf überraschte? Hatte er es vielleicht sowieso auf sie abgesehen? War sie ihm nur entkommen, weil sie zu dem Date mit Peter gegangen war?
Seufzend drehte Jade sich von einer Seite auf die andere. Sie durfte sich nicht selbst verrückt machen.
Schließlich stand sie auf und schloss die Kabinentür von innen sorgfältig ab. Außerdem hatte sie noch einen kleinen Eisenkeil, den sie bei ihrem letzten Job im Ferienclub gebraucht hatte. Dort war ihre Unterkunft überhaupt nicht abschließbar gewesen. Jade drückte den Keil in den schmalen Spalt zwischen Tür und Türstock. Sie rüttelte an der Klinke. Nun war es fast unmöglich, die Tür zu öffnen. Der Keil war sogar noch wirkungsvoller als ein Schloss, das man knacken konnte.
Sobald sich Jade auf ihre Kojenkante gesetzt hatte, wurde sie von einer bleiernen Müdigkeit überwältigt. Sie schaffte es kaum noch, unter die Bettdecke zu kriechen.
Sie fiel in einen tiefen Schlaf. In ihren Albträumen wurde sie von einem Vermummten ohne Gesicht durch die langen Gänge des Schiffs gehetzt.
Am nächsten Morgen war Jade nicht gerade ausgeruht. Sie quälte sich aus dem Bett. Das Heiß-Duschen weckte ihre Lebensgeister.
Als Erstes stand wieder ihr Power Workout auf dem Programm. Jade hatte am Vortag im Fitnessraum Springseile gesehen. Davon wollte sie sich einige holen, um eine Seilspring-Einheit in das Training einzubauen. In ihrem Sport-Outfit eilte sie hinunter zum Gym. Jade ging in den Geräteraum. Sie hatte sich einige Seile über den Arm gelegt, als sie plötzlich Stimmen auf dem Gang hörte.
Sie sah Roxanne. Seufzend trat Jade einen Schritt zurück. Sie war alles andere als wild darauf, dieser Frau zu begegnen. Schließlich duckte sie sich sogar hinter einen Metallschrank, in dem Boxhandschuhe aufbewahrt wurden. Vielleicht hatte sie ja Glück, und Roxanne würde gleich wieder verschwinden. Jedenfalls war das Model nicht allein. Jade hörte eine Männerstimme, sie konnte jetzt jedoch weder Roxanne noch ihren Begleiter sehen.
„Letzte Nacht war toll“, sagte Roxanne.
Jade runzelte die Stirn. Roxannes Stimme klang, wie Jade sie bisher nie gehört hatte. Offenbar unterhielt sie sich mit einem Mann, der ihr sehr viel bedeutete. Sie redete in einem verführerischen Tonfall, rau und sanft zugleich, ein Streicheln in Form von Tönen. Jade war es peinlich, dass sie ungewollt zur Lauscherin geworden war. Aber wenn sie jetzt aus ihrem Versteck kam, würde Roxanne garantiert ausrasten. Das wollte Jade
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