Rau ist die See ...
Das war die einzige Erklärung, die für Jade einen Sinn ergab. Natürlich konnte sie den Kredithai locker bezahlen, wenn sie erst einmal den wertvollen Schmuck in ihren Besitz gebracht hatte.
War dann Roxanne die Mörderin des unbekannten Komplizen?
Momentan sprach alles dafür. Roxanne war groß und schlank. Wenn sie vermummt gewesen war, konnte Ann sie auf größere Entfernung für einen Mann gehalten haben. Außerdem hatte Roxanne genug Wut im Bauch, um eine solche Tat verüben zu können. Nelligan wusste offenbar nicht, dass Roxanne nach den Juwelen suchte. Sie hatte ihn nicht eingeweiht. Aber warum hätte sie das auch tun sollen? Sie war ja in ihn verschossen und wollte ihn nicht auch noch als einen weiteren lästigen Mitwisser beseitigen müssen.
Nun ergriff wieder Roxanne das Wort. „Stan, lass uns von hier verschwinden. Ich habe mir für heute noch einiges vorgenommen.“
„Ja, sonst werden wir noch von ein paar Frühaufstehern überrascht. Ich habe gleich Brückenwache.“
Die Tür zum Gym wurde von außen geschlossen. Jade atmete tief durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, wie riskant eine Entdeckung für sie gewesen wäre. Jade hatte vieles mitgehört, das nicht für ihre Ohren bestimmt war. Und zumindest Roxanne traute sie inzwischen einen Mord ohne weiteres zu. Bei Nelligan war sie sich unschlüssig. Nachdem sie das Gespräch zwischen ihnen verfolgt hatte, hielt sie ihn für zu schwach, sich gegen Roxanne durchzusetzen. Wenn Roxanne Jades Tod wollte, würde er sich nicht dagegen auflehnen.
Wieder verspürte Jade den Impuls, zum Kapitän zu gehen. Aber sie hatte nach wie vor keinen Beweis in Händen. Am besten wäre es, die Juwelen in Roxannes Besitz sicherzustellen. Dafür musste diese den Schmuck jedoch erst einmal gefunden haben …
Und was ist mit Ann, rätselte Jade. Lebte sie noch – und falls ja, wo wurde sie versteckt? Wenn Ann von Roxanne gekidnappt worden war – Ann war eine erstklassige Belastungszeugin.
Obwohl Jade sie nicht persönlich kannte, war sie ihr durch das Videotagebuch seltsam vertraut geworden. Es kam Jade fast vor, als wäre eine Freundin entführt worden. Vielleicht konnten sie und Ann ja wirklich eines Tages Freundinnen werden. Jade zweifelte nicht daran, dass sie sich mit Ann gut verstehen würde – auch wenn die eine Millionärstochter war.
Jade blickte auf ihre Armbanduhr und stand langsam auf. Es war bald Zeit für ihr morgendliches Power-Workout. Trotzdem wartete sie noch ein paar Minuten, bevor sie das Gym verließ. Vorsichtig sah sie sich um. Die Luft schien rein zu sein, jedenfalls konnte Jade weder Roxanne noch Nelligan erblicken.
Ein halbes Dutzend Springseile über dem Arm, eilte sie zum Sonnendeck.
Am Himmel ballten sich düstere Wolken, Sprühregen ging auf das Schiff nieder. Es war kein ideales Wetter, um draußen Sport zu treiben. Dennoch wartete Jade. Als nach einer Viertelstunde kein Passagier erschienen war, ging sie ins Sunlight Bistro, das direkt neben dem Sonnendeck lag. Vielleicht konnte sie ihren Kurs hier abhalten.
„Wahrscheinlich sind die Ladies alle seekrank“, meinte Henry, nachdem er sich zu Jade gesetzt und sie ihm erzählt hatte, dass ihre Kursteilnehmerinnen fortgeblieben waren. „Du glaubst nicht, wie viele Kreuzfahrtpassagiere einen schwachen Magen haben.“
Das konnte Jade von sich zum Glück nicht behaupten. Sie spürte natürlich auch die Schiffsbewegungen, aber ihr wurde davon nicht übel. Aber Henry hatte recht. Im Moment hielten sich nur wenige Passagiere im Bistro auf.
Die perfekte Gelegenheit, um zu recherchieren, dachte sie.
In diesem Moment verabschiedete Henry sich, weil er zurück an die Arbeit musste.
Da ihr Notebook gestohlen worden war, ging Jade in die Schiffsbibliothek. Dort standen zwei PCs zur kostenlosen Nutzung bereit. Offenbar hatte an diesem stürmischen Morgen niemand Lust, die Nase in ein Buch zu stecken. Jedenfalls war Jade allein der Schiffsbücherei. Gespannt fuhr sie einen der Computer hoch.
Zunächst versuchte sie, etwas über den Juwelenraub herauszufinden. Mit den Suchbegriffen „Schmuck“ und „MS Kyrene“ landete sie mehr als genug Treffer. Jade las als Erstes den Artikel einer Tageszeitung:
FLUCHT AUF LUXUSLINER VEREITELT
Ganz standesgemäß wollte sich der mehrfach vorbestrafte George M. (52) ins Ausland absetzen. Er beschaffte sich unter falschem Namen ein Ticket für die MS Kyrene, um eine Kreuzfahrt zum norwegischen Nordkap
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