Raue See
Bett.
»Ich gehe dann mal«, sagte Streichers Kollege. »Überleg dir bitte noch mal, ob das wirklich gut ist, was du vorhast.«
Streicher nickte. Er wusste, dass er viel Verantwortung auf sich geladen hatte. Erneut prüfte er Wiebkes Vitalfunktionen und ging dann ins Wohnzimmer, wo er telefonisch einen Notdienst beauftragte, der eine Stunde später die Balkontür notdürftig reparierte. Nachdem das erledigt war, setzte er sich an Wiebkes Bett und wartete.
* * *
Langsam erwachte Wiebke. Sie nahm alles wie durch einen Schleier, eine dicke Nebelsuppe wahr. Es dauerte, bis sie realisierte, wo sie war und was geschehen war. Dann bemerkte sie Herbert Streicher, der auf einem Stuhl neben ihrem Bett saß.
»War wohl keine gute Idee?«, murmelte sie.
»Du bist durchgedreht. Kein Wunder«, antwortete Herbert Streicher.
»Danke, Herbert«, flüsterte sie und meinte es so. Irgendwie war sie auf einmal froh, dass er sie noch rechtzeitig gefunden hatte.
Sie brauchte noch eine gute Stunde, bis sie wieder einigermaßen klar war. Streicher half ihr beim Aufstehen. Sie wankte beim Gehen, als wäre sie völlig betrunken, schaffte es aber bis nach unten in die Küche, wo Streicher ihr ein Glas Wasser gab, das sie gierig trank.
»Du wohnst jetzt erst einmal bei uns«, sagte er.
»Kommt gar nicht in Frage«, protestierte Wiebke. »Das war ein einmaliger Ausrutscher, Herbert. Versprochen!«
»Entweder du wohnst bei uns, oder ich liefere dich in die Psychiatrie ein, wozu ich eigentlich sowieso verpflichtet bin. Deine Entscheidung.«
Das wirkte. Die Angst vor der Psychiatrie saß bei Wiebke so tief, dass sie lieber Streichers Drängen nachgab. Eine Stunde später betraten sie Streichers Haus, wo sie von dessen Frau herzlich empfangen wurde. Sie bezog das Gästezimmer und legte sich sofort hin. Es folgten vierzehn Stunden traumlosen, fast schon komatösen Schlafes.
Als Wiebke am späten Vormittag des nächsten Tages erneut wach wurde, fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Sie duschte ausgiebig und wunderte sich, als sie das Wohnzimmer betrat, dass Herbert Streicher nicht im Dienst war, sondern dort offensichtlich auf sie gewartet hatte.
Er kam unmittelbar zur Sache. »Ich weiß, warum du dich umbringen wolltest«, sagte er. »Ich habe deinen Rechner im Büro gecheckt und das Video gesehen.«
Wiebke nickte.
»Ich verstehe auch, warum du niemandem davon erzählen wolltest. Ich habe nämlich das gleiche Problem.«
»Wieso?«, fragte sie überrascht.
Streicher erzählte, welche Kugel den Serientäter, der offenbar doch kein Einzeltäter war, wie sie bisher angenommen hatten, getötet hatte.
»Das heißt«, schlussfolgerte Wiebke, »dass wir es möglicherweise von Anfang an mit zwei Tätern zu tun gehabt haben. Wir wissen, dass Max die Entführungen organisiert hat. Die Spurenlage in zwei Fällen und eine parallele Vorgehensweise in einer ganzen Reihe weiterer Vermisstenfälle lässt den Schluss zu. Und natürlich Katharina Shkarupas Aussage. Wer die gefilmten Morde begangen hat, wissen wir dadurch aber nicht. Max? Moritz? Beide abwechselnd?«
»Ich tippe auf Moritz«, sagte Streicher. »Max ist tot, aber das Video, das du erhalten hast, gleicht in jedem Detail den vorherigen. Ich vermute, dass Moritz Angst hatte, Max könnte ihn verraten, nachdem die Ukrainerin mit einem Foto von ihm entkommen war. Also hat er ihn liquidiert.«
»Aber wie ermitteln wir gegen jemanden aus den eigenen Reihen? Bis wir einen konkreten Verdacht haben, weiß der doch über alles Bescheid, was wir tun.«
»Ich hatte an die Innere gedacht«, schlug Streicher vor.
Wiebke schüttelte den Kopf. »Die sind zwar eigentlich dafür zuständig. Nur: Wer garantiert uns, dass das Schwein nicht ausgerechnet bei der Inneren arbeitet?«
»Klingt logisch. Also sind wir zu zweit. Nicht eben gerade viel, vor allem, weil wir quasi undercover arbeiten müssen.«
»Es gibt da noch jemanden, den wir mit ins Boot holen können.«
»So? Wen denn?«
»Bergmüller. Der kann es nicht gewesen sein, weil er zur Zeit des Mordes an Lena und Silke schon auf dem Weg nach Australien war. Sein Flug ging am Samstag ganz früh, da haben die beiden den ›Norddeutschen Neuesten Nachrichten‹ im Video zufolge noch gelebt.«
»Und wenn er nicht geflogen ist?«
Wiebke erschrak. Daran hatte sie nicht gedacht.
»Wir müssen es überprüfen«, sagte sie und fragte Streicher, wo sein privater Computer stand. Streicher deutete auf die Treppe. Sie folgte ihm in ein kleines Büro
Weitere Kostenlose Bücher