Raue See
überprüfte das Ergebnis lieber noch einmal. Doch auch die zweite ballistische Untersuchung der Kugel, die Markus Höhn getötet hatte, zeigte, dass das Geschoss aus einer Polizeipistole stammte. Wessen Waffe das gewesen sein könnte, wusste er nicht. Er müsste es herausfinden, aber das konnte er nicht allein. Er überlegte lange, wen er in Kenntnis setzen oder was er tun sollte, und zermarterte sich das Hirn, welcher Kollege zu einer solchen Tat in der Lage wäre, und vor allem, warum. Denn dass ein Polizist den Mord begangen hatte, war nun klar, und auch, dass Wiebke mit ihrer Vermutung, er könnte Teil der Soko sein, vielleicht recht gehabt hatte.
Streicher schloss die Akte, verstaute sie im Tresor und verließ unter einem Vorwand sein Labor. Im Präsidium ging er schnurstracks zu Wiebkes Büro und fand es leer vor. Er sah den zerstörten Monitor, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Als er erfuhr, dass Wiebke sich krankgemeldet hatte, überlegte er nur kurz, ließ sich Wiebkes Privatadresse geben und fuhr zu ihr. Sie sollte zuerst von seiner Entdeckung erfahren, dann könnten sie gemeinsam überlegen, was zu tun war.
Ihr Dienstwagen stand vor dem Haus. Sie war also da. Er klingelte Sturm, aber niemand öffnete. Daher ging er ums Haus, lugte vom Garten aus ins Wohnzimmer und sah sie auf dem Sofa liegen. Er klopfte laut und vernehmlich, aber Wiebke rührte sich nicht.
Streicher begann, sich Sorgen zu machen. Er entdeckte das Glas auf dem Couchtisch, und ein schlimmer Verdacht kam in ihm auf. Er hatte sich immer gefragt, wie Wiebke die Erlebnisse der letzten Jahre ohne professionelle Hilfe so gut hatte wegstecken können.
Von einer Sekunde auf die andere machte er sich heftige Vorwürfe. Er war Arzt und kannte die Gefahren, die unbehandelte traumatische Erlebnisse hervorbringen konnten. Trotzdem hatte er ihr Eheglück und ihre späte Schwangerschaft als ein Zeichen gedeutet, dass die schlimmen Erlebnisse einen Gegenpol gefunden hatten. Als hätte Wiebke das allein bewältigen können! Wieso hatte er nicht bemerkt, dass sie allen etwas vorspielte? Da schob man jahrelang zusammen Dienst. Und wenn eine Kollegin in eine existenzielle Krise geriet, tat man nichts. Außer seinen Beteuerungen, stets für sie da zu sein, hatte er doch wie all die anderen zufrieden mit den Schultern gezuckt, als sie sich zusammenriss, und einfach weitergemacht, als sei nichts geschehen. Und nun war es zu dieser Hexenjagd gekommen, die der Mann auf seinem Seziertisch veranstaltet hatte. Selbst ein Kollege ohne eine derartige Vorgeschichte würde in einer solchen Situation an die Grenze seiner psychischen Belastbarkeit gebracht. Das hätte er bemerken müssen. Der zerstörte Monitor in Wiebkes Büro fiel ihm wieder ein. Ohne weiter zu überlegen, nahm er einen der Vulkansteine, die die Terrasse des Hauses zierten, und warf die Scheibe der Balkontür ein. Er griff hindurch und öffnete sie von innen. Am Glas auf dem Tisch musste nur kurz riechen, um zu wissen, was passiert war.
Er prüfte Puls und Atmung. Sie waren beide schwach, aber noch vorhanden. In der Küche fand er die Schachteln. Streicher nahm sein Handy und erreichte einen Kollegen außerhalb des Polizeiapparates, dessen Verschwiegenheit er sich sicher sein konnte. Er schilderte die Situation, bat ihn, unauffällig zu Wiebke zu kommen, und legte auf.
Von diesem Suizidversuch durfte niemand erfahren. In ihren Reihen war ein Mörder. Der Selbstmordversuch einer Kollegin würde die Kräfte im Präsidium und den Fokus aller Beteiligten derart binden, dass er etwaige Spuren, die ihn vielleicht doch noch verraten würden, verwischen könnte.
Nur wenige Minuten später erschien Streichers Kollege mit einem Notfallkoffer und vor allem allein. Gemeinsam behandelten sie die ohnmächtige Wiebke, pumpten ihr den Magen aus und injizierten ein den Kreislauf stabilisierendes Mittel.
»Sie muss trotzdem ins Krankenhaus, Herbert«, sagte sein Kollege, ein Internist.
»Ich weiß, aber das geht im Moment nicht.«
»Ich rede dir da ungern rein, doch diese Frau hat gerade versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie gehört in eine Behandlung.«
»Ich kümmere mich um sie, versprochen«, sagte Streicher. »Sie wird eine Therapie machen und alles, was dazugehört, dafür werde ich sorgen. Aber bitte versteh, dass hiervon keiner was erfahren darf.«
»Es ist deine Verantwortung, Herbert«, ermahnte ihn sein Kollege.
»Ich weiß.«
Sie trugen Wiebke ins Schlafzimmer und legten sie auf ihr
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