Raue See
Akten. Heute ist Dienstag, und in eins, zwei, drei«, Bergmüller zählte es ihnen demonstrativ mit den Fingern vor, »vier Tagen stirbt die Nächste einen qualvollen Tod.«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Gib mir noch mal die Hauptakte.«
Streicher kramte und reichte Bergmüller die Papiere. Der las schnell, aber offensichtlich hoch konzentriert. Dann nickte er heftig und murmelte: »Das passt.«
»Was passt?«, fragte Wiebke verwirrt.
»Ich muss etwas ausholen, um das zu erklären. Und es ist nicht gerade das Ruhmesblatt meiner Karriere.«
»Wir sind gespannt.«
»Also«, begann Bergmüller gedehnt. »Wie ihr wisst, war ich Anfang der Neunziger hier Polizist. Zielkow und ich bildeten bei mehreren Fällen ein Team. Wir waren ziemlich gut, bis auf einen Fall konnten wir alle aufklären.«
»Ich erinnere mich«, sagte Wiebke. »Es gab während deiner Zeit hier überhaupt nur einen einzigen Fall, den du nicht aufklären konntest, und Zielkows Quote war ähnlich gut.«
»Ich erinnere mich aber nicht«, sagte Streicher. »Anfang der Neunziger war ich noch Stationsarzt in Erlangen.«
»Wir ermittelten in einem Mordfall im Rotlichtmilieu. Eine Prostituierte war von einem Freier brutal erstochen worden. Wir hatten ziemlich schnell einen Verdächtigen. Theodor Schmidt-Geerling hieß er. Er war kein unbeschriebenes Blatt. Wir nahmen ihn fest, und er kam in U-Haft. Ich holte ihn zum Verhör und nahm ihm die Handschellen ab. Etwas zu früh. Wie aus dem Nichts hatte er plötzlich eine Waffe in der Hand. Wir haben die undichte Stelle im Vollzug nie finden können. Aber ihr wisst ja, dass man im Knast für Geld wie im richtigen Leben fast alles kriegen kann. Jedenfalls entwaffnete er mich und zwang mich, ihn wegzubringen. Irgendwo in der Pampa kettete er mich an einen Baum, zog mich aus und schoss mir zum Abschied ins Bein. Wie die spätere ballistische Untersuchung ergab, handelte es sich bei seiner Waffe um eine Jahre zuvor bei einem Einsatz abhandengekommene Polizeiwaffe. Schmidt-Geerling nahm meinen Dienstwagen und verschwand. Den Wagen haben wir später am Hafen gefunden. Der Verdächtige blieb verschwunden. Ebenso die Waffe, die er benutzte.«
»Und Sie meinen, es könnte sich bei ›Moritz‹ um jenen – wie hieß er noch gleich? – handeln?«
»Schmidt-Geerling. Theodor Schmidt-Geerling. So etwas vergisst man nicht, das können Sie mir glauben. Mit unserer Suche nach einem Polizisten als Täter sind wir in den letzten Tagen nicht sehr weit gekommen. Wenn die Tatwaffe aber aus einem alten Fall stammt, muss es überhaupt kein Kollege sein.«
»Aber auch wenn die Waffe damals in Schmidt-Geerlings Besitz verblieb, kann er als Privatperson, noch dazu vorbestraft, unmöglich wissen, was unser Täter weiß«, widersprach Wiebke.
»Unterstellen wir mal«, sagte Streicher nach kurzer Überlegung, »die Waffe, mit der Sie damals verletzt wurden, Herr Bergmüller, und die Waffe, die ›Max‹ getötet hat, sind identisch. Dann spricht viel dafür, dass Schmidt-Geerling zumindest damals einen Komplizen hatte, der Polizist war. Polizeiwaffen bekommt man schließlich nicht an jeder Ecke. Vielleicht ist ›Moritz‹ ja wie angenommen Polizist und hat ›Max‹ alias Schmidt-Geerling alias Markus Höhn mit dessen eigener Waffe erschossen.« Streicher sah Wiebke und Bergmüller fragend an. Doch dann schüttelte er den Kopf und winkte ab. »Das ist nicht möglich. Wenn er, wie Sie sagen, kein unbeschriebenes Blatt war, hätten wir bei der Suche nach Markus Höhn Schmidt-Geerlings Fingerabdrücke im System gefunden.«
»Wenn sie denn überhaupt ins System eingegeben wurden. Noch naheliegender ist, dass man sie in der Zwischenzeit entfernt hat«, antwortete Bergmüller.
»Wie meinst du das?«, fragte Wiebke mit offenem Mund.
»Nun, das Automatisierte Fingerabdruckidentifizierungssystem AFIS wurde damals gerade erst eingeführt. Die alten Abdrücke mussten manuell eingegeben werden. Und wie ihr wisst, wird es zwar zentral beim BKA geführt, aber von den LKA s bearbeitet. Wenn also ein Insider mit Zugang zum AFIS den Datensatz mit den Abdrücken Schmidt-Geerlings gelöscht hat, suchen wir uns einen Wolf.«
»Dann werden wir nie mit Sicherheit sagen können, ob die gut gekühlte Leiche in der Gerichtsmedizin mal auf den Namen Theodor Schmidt-Geerling gehört hat. Denn ohne Referenz kann ich nichts beweisen«, sagte Streicher resigniert.
»Du unterschätzt die deutsche Bürokratie«, antwortete Wiebke mit einem Lächeln.
Weitere Kostenlose Bücher