Raue See
Telefonhörer und ließ sich mit Lenas Vorgesetztem verbinden.
»Ist die Kollegin Svenson heute im Dienst?«, fragte sie mit dem letzten Rest an Hoffnung, den sie noch hatte.
»Sie haben es nicht gehört?«, fragte Lenas Chef verwundert.
»Was gehört?«, kreischte Wiebke und überspielte es mit einem Hustenanfall.
»Die Kolleginnen Lena Svenson und Silke Meier sind seit Donnerstag verschwunden. Wir haben ihren Einsatzwagen verlassen auf dem Gelände der Industrieruine Petridamm gefunden. Sie hatten sich nicht abgemeldet und auch keinen entsprechenden Einsatz gehabt. Keine von beiden hat sich seither gemeldet, weder bei uns noch bei Verwandten oder Freunden. Wir können uns keinen Reim darauf machen. Komisch, dass Sie davon nichts mitbekommen haben.«
»Ich war ein paar Tage verreist«, flüsterte Wiebke, während ihr die Tränen wie Bäche über die Wangen liefen. »Was haben Sie veranlasst?«
»Wir haben beide zur Fahndung ausgeschrieben. Bislang ergebnislos.«
»Danke«, sagte Wiebke und legte, ohne eine Antwort abzuwarten, auf. Dann tat sie etwas, von dem sie wusste, dass es sie ihr ganzes Leben belasten würde. Aber sie musste sich den Film ansehen. Sie musste den Mörder fangen.
Es folgten die schrecklichsten vierundvierzig Minuten ihres Lebens.
Der Täter hielt sich wieder penibel an den schon etablierten Ablauf. Er hielt die »Norddeutschen Neuesten Nachrichten« vom 4. August in die Kamera, legte sie weg und begann sein teuflisches Werk. Eines aber war anders als sonst: Die Gesichter seiner Opfer waren nicht unkenntlich gemacht.
Wiebke weinte nicht einmal mehr, als sie sah, wie erst Silke Meier und dann ihre Freundin Lena gefoltert, brutal vergewaltigt und schließlich in offensichtlichem Wahn erstochen wurden. Als das Programm am Ende fragte: »Noch einmal abspielen?«, nahm sie den schweren Locher von ihrem Schreibtisch und warf ihn in den Bildschirm.
Als sie wieder denken konnte, meldete sie sich krank und fuhr nach Hause. Zielstrebig ging sie ins Badezimmer, öffnete den Medizinschrank und nahm die Packungen Valium und Schlaftabletten heraus. Die hatte man ihr damals nach dem Mordversuch an ihr verschrieben. Sie hatte sich aber geweigert, das Zeug zu nehmen. Das schaffe ich schon allein, war ihr Mantra. Von wegen.
In der Küche pulverisierte sie den Inhalt beider Packungen, füllte das Zeug in ein Glas und öffnete eine Flasche Wein. Sie goss auf und rührte um. Sie konnte einfach nicht mehr.
Auch wenn er ein Psychopath war. Oder ein psychisch kranker Soziopath, wie Bergmüller meinte. Mit einem hatte er völlig recht: Sie hatte diese Menschen auf dem Gewissen. Den ersten Mord vielleicht nicht. Aber alle weiteren wären nicht passiert, wenn sie ihn gekriegt hätte. Sie war eine Mörderin, weil sie es nicht schaffte, jemand anderen am Töten zu hindern, obwohl es ihre Aufgabe, ja ihre Pflicht war.
Für sie war nun klar, dass der Täter ein Polizist sein musste. Nur ein Kollege wäre in der Lage, Lena und Silke im Dienst in einen Hinterhalt zu locken. Aber es konnte jeder sein. Sie hatte keinen Schimmer, um wen es sich handelte. Sie konnte niemanden außer den weiblichen Kollegen wirklich ausschließen. Also war sie ganz allein. Hatte er nicht recht, dass sie zu dumm war, ihn zu fangen? Sie kannte ihn persönlich und hatte dennoch nicht die blasseste Ahnung, wer er war. Sie hatte auf ganzer Linie versagt.
Er hatte es geschafft. Sie war am Ende. Sie rührte nochmals um und setzte das bitter riechende Gebräu an den Mund. Du wirst ganz einfach einschlafen, dachte sie, um sich Mut zu machen. Ein sanfter Tod ist doch was. Dann dachte sie an Jonas und setzte wieder ab. Mit dem Glas in der Hand ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Sollte sie sich wirklich feige aus dem Leben stehlen und ihrem Kind die Mutter nehmen? Aber wollte ein Kind denn überhaupt eine Mutter, die, wie sie es auch drehte und wendete, schuld am Tod von sechs Menschen war? Projizierte sie da nicht ihre Angst vor dem Tod auf das Leben ihres Sohnes? Was war mit Jonas’ Recht, als glücklicher, behüteter Junge in einem gesunden Umfeld aufzuwachsen? Einem Umfeld, das sie ihm nicht mehr bieten konnte.
Wiebke suchte nach Gründen, die ihr erlaubten, weiterzuleben. Gründe, die nicht selbstsüchtig waren. Doch am Ende siegten die depressiven Gedanken. Sie setzte an und trank das Gebräu in großen Schlucken. Schon bald setzte eine bleierne Müdigkeit ein. Verbittert schlief sie ein.
* * *
Herbert Streicher
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