Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Raue See

Raue See

Titel: Raue See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Westerhoff
Vom Netzwerk:
las.
    »Hallo Wiebke, dumme Maid,
    Wundert’s dich? Ich wusst Bescheid,
    Dass der Falsche sitzt im Bau,
    Weil du bist nur eine Frau!
    Wirst vor Scham nun wohl erröten,
    weil ich konnte sechse töten.
    Und trotz der Mühen, mich zu jagen,
    Nutzlos war’n all deine Plagen.
    Damit komme ich zum Schluss,
    Dass ich dich bestrafen muss.
    Wer im Dienste nichts bewirkt,
    Hat sein Leben bald verwirkt.
    Dieses wird der letzte Streich.
    Und ihr merkt doch sicher gleich,
    Dass anders als in der Geschicht’
    Diesmal siegt der Bösewicht.
    Lest ihr heute diese Zeilen,
    Müsst ihr euch gar sehr beeilen.
    Kürzer wird die letzte Frist,
    sie nur noch drei Tage ist.«
    Es dauerte eine ganze Weile, bis Streicher wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Er blickte auf seine Uhr. Es war zwölf Uhr vierunddreißig. Sie hatten also neunundfünfzig Stunden und sechsundzwanzig Minuten brutto, um Wiebke zu finden. Dann würde der Samstag beginnen, an dem Moritz den finalen Streich inszenierte.
    Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe, kamen ihm Wilhelm Buschs Worte in den Sinn.
    Wie Streicher es auch drehte und wendete, Wiebke war so gut wie tot, wenn er sie nicht bis Samstag fände. Doch wie standen seine Chancen? Allein? Er war ja nicht einmal Polizist. Aber wem konnte er jetzt noch trauen? Der Polizeiapparat erschien ihm viel zu gefährlich. Es gab immer eine undichte Stelle. Und ihr Täter saß nach wie vor mittendrin.
    Er musste es auf eigene Faust versuchen. Doch wie sollte das gehen? Da fiel ihm ein, an wen er sich wenden konnte. Er schämte sich, dass er für diesen Gedanken so lange gebraucht hatte. Er musste Günter informieren. Und Wiebkes Onkel. Dann wären sie zu dritt. Zwei, wie man so schön sagte, »Best Ager«, die man wohl deswegen so nannte, weil sie ihre besten Zeiten hinter sich hatten, und ein Rentner. Herzlich wenig, wenn man es genau betrachtete. Aber sie waren Wiebkes letzte Chance.
    »Bitte lass ihn rangehen«, murmelte er mantramäßig vor sich hin, als er sein Smartphone in der Hand hielt und durch die Kontakte scrollte. Er tippte auf »Günter Menn« und atmete auf, als die Verbindung hergestellt wurde.
    Nach dem dritten Klingeln nahm Günter ab. Obwohl Streicher kurz vor der Hyperventilation stand, versuchte er in knappen Worten, ihm die Situation präzise und so sachlich, wie das in dieser Situation eben ging, zu schildern. Günter sagte erst gar nichts, dann schrie er ihn an, beleidigte die Polizei, den ganzen Apparat und schien schließlich zusammenzubrechen.
    »Hallo?«, brüllte Streicher ins Mikro. »Günter, melde dich! Wir haben keine Zeit!«
    »Wozu haben wir keine Zeit?«, hörte er auf einmal eine andere männliche Stimme fragen. »Ich finde hier Günter in sich zusammengesunken vor, und Sie brüllen ihn durchs Telefon an! Was ist passiert?«
    Noch einmal erzählte Streicher die Geschichte. Randolph hörte aufmerksam zu, stellte Fragen, schien sich sogar Dinge zu notieren. Auch wenn Streicher das Gefühl nicht loswurde, dass der Onkel, der ja schließlich so etwas wie Wiebkes Vater war, vielleicht zu sachlich reagierte. Aber immer noch besser, als einen zweiten Ohnmächtigen zu haben.
    »Wir sind in circa zwei, drei Stunden da. Je nach Verkehrslage«, sagte Randolph.
    »Warum so lange?«, fragte Streicher.
    »Weil wir im Urlaub sind, Sie Nachtwächter«, antwortete Randolph grob und legte auf.
    Streicher wusste nicht, wie er die Zeit bis dahin überstehen sollte, aber er war auch irgendwie erleichtert. Jedenfalls schien dieser Mann kein Warmduscher zu sein. Vielleicht würde das sein greises Alter etwas ausgleichen.
    Es wurden die längsten einhundertvierundvierzig Minuten seines Lebens.
    Zur Untätigkeit verdammt, während die Sandkörner in der Uhr unbarmherzig herabrieselten, hatte sich Streicher eine Schachtel Zigaretten besorgt und rauchte inzwischen die siebte oder achte. Dass »die erste seit acht Jahren« bei der Verhaftung auch die letzte Zigarette sein würde, hatte er sich selbst eingeredet.
    Endlich sah er durch Wiebkes Küchenfenster den silbergrauen Ford Mondeo vorfahren. Randolph verließ den Fahrersitz, öffnete die Fondtür und nahm den kleinen Jonas auf den Arm. Günter stieg ebenfalls aus. Er ging gebeugt, schien um Jahre gealtert zu sein und wirkte wesentlich älter als Randolph.
    Streicher öffnete die Haustür, und sie gaben sich wortlos die Hand.
    »Entschuldigung«, sagte Günter tonlos.
    »Wofür?«, fragte Streicher.
    »Dass ich zusammengebrochen

Weitere Kostenlose Bücher