Raum
zu.
»Richtig, Flucht, und auch über die Verhaftung des mutmaßlichen Kidnappers. Haben Sie im Verlauf der Jahre manchmal das Gefühl bekommen, dass diesem Mann … mit einem letzten Rest an Menschlichkeit … sein Sohn vielleicht irgendwie am Herzen lag?«
Mas Augen sind ganz schlitzig geworden. »Jack ist ganz allein mein Sohn.«
»In gewisser Weise haben Sie da absolut recht«, sagt die Frau. »Ich habe mich auch nur gefragt, ob Ihrer Ansicht nach die genetische, die biologische Beziehung …«
»Es gab keine Beziehung .« Ma spricht durch ihre Zähne.
»Und wenn Sie Jack anschauten, wurden Sie da niemals schmerzlich an seine Herkunft erinnert?«
Mas Augen sind jetzt sogar noch schlitziger. »Er erinnert mich einzig und allein an ihn selbst.«
»Mmm«, macht die Fernseher-Frau. »Wenn Sie jetzt an Ihren Kidnapper denken, zerfrisst Sie da nicht der Hass?« Sie wartet. »Wenn Sie ihm erst einmal im Gericht gegenübergestanden haben, glauben Sie, danach werden Sie jemals in der Lage sein, ihm zu vergeben?«
Mas Mund zuckt. »Das ist nicht gerade das Dringlichste in meinem Leben«, sagt sie. »Ich versuche, so wenig wie möglich an ihn zu denken.«
»Ist Ihnen eigentlich klar, was für ein Leuchtfeuer Sie sind?«
»Ähm … wie bitte?«
»Ein Leuchtfeuer der Hoffnung«, sagt die Frau und lächelt. »Seit der Sekunde, wo wir angekündigt haben, dass wir dieses Interview führen würden, haben die Menschen bei uns angerufen oder E-Mails geschickt und gesimst, um uns wissen zu lassen, was für ein Engel Sie sind, was für ein Talisman der Güte …«
Ma verzieht das Gesicht. »Ich habe nichts weiter getan, als zu überleben. Und Jack großzuziehen habe ich ziemlich gut hinbekommen.«
»Sie sind sehr bescheiden.«
»Nein, ehrlich gesagt, bin ich eher irritiert.«
Die Frau mit den plusterigen Haaren blinzelt zweimal.
»Diese ganze Ehrfurcht … ich bin doch keine Heilige.« Mas Stimme wird wieder laut. »Ich wünschte, die Leute würden aufhören, uns zu behandeln, als wären wir die Einzigen, denen jemals etwas Schlimmes widerfahren ist. Im Internet habe ich Sachen entdeckt, die würden Sie gar nicht glauben.«
»Andere Fälle wie den Ihren?«
»Ja, aber nicht nur das … Zugegeben, als ich damals in dem Schuppen aufwachte, da habe ich gedacht, noch nie wäre jemandem jemals so etwas Schreckliches wie mir passiert. Aber tatsächlich ist die Sklaverei ja nichts Neues. Und zum Thema Isolation … wussten Sie, dass wir in Amerika über 25 000 Häftlinge in Einzelhaft haben? Manche schon über zwanzig Jahre.« Mas Hand zeigt auf die Frau mit den plusterigen Haaren. »Und was die Kinder betrifft … es gibt Waisenhäuser, da liegen die Babys zu fünft in Gitterbetten, die Schnuller sind mit Klebeband am Mund festgeklebt. Es gibt Kinder, die werden jede Nacht von Daddy vergewaltigt, Kinder, die in Gefängnissen oder wo auch immer hausen und so lange Teppiche knüpfen müssen, bis sie blind sind …«
Einen Moment lang ist es ganz still. Dann sagt die Frau: »Ihren eigenen Erfahrungen verdanken Sie also ein … ähm … enormes Mitgefühl mit den leidenden Kindern in unserer Welt.«
»Nicht nur mit den Kindern«, sagt Ma. »Menschen werden auf alle mögliche Weise eingesperrt.«
Die Frau räuspert sich und guckt auf das Blatt auf ihrem Schoß. »Sie haben eben in der Vergangenheit gesprochen. Sie sagten, Sie haben es ziemlich gut hinbekommen, Jack großzuziehen. Diese Aufgabe ist ja nun bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Aber jetzt bekommen Sie ja jede Menge Hilfe von Ihrer Familie und ebenso von zahlreichen engagierten Experten.«
»Ehrlich gesagt, ist es jetzt schwieriger.« Ma guckt nach unten. »Als unsere Welt nur vierzehn Quadratmeter groß war, da war sie auch leichter zu kontrollieren. Im Moment hat Jack vor allen möglichen Sachen eine Heidenangst. Aber ich finde es abscheulich, dass die Medien jetzt so tun, als sei er irgendeine Missgeburt oder ein Halbidiot oder Wilder. Allein schon das Wort …«
»Aber er ist schon ein ganz besonderer Junge.«
Ma zuckt mit den Achseln. »Er hat einfach nur seine ersten fünf Jahre an einem seltsamen Ort verbracht, mehr nicht.«
»Und Sie glauben nicht, dass dieses Martyrium ihn vielleicht geformt hat … geschädigt?«
»Für Jack war es kein Martyrium, es war einfach die Normalität. Und vielleicht ja, kann sein, aber jeder ist schließlich durch irgendwas geschädigt.«
»Ganz offenbar macht er in seiner Genesung ja auch bereits
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