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Raum

Raum

Titel: Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Donoghue
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kleine Wanze an ihr Jackett. Eine Frau kommt mit einer Schachtel voller Farben und fängt an, Mas Gesicht zu bemalen.
    Ich erkenne unseren Anwalt Morris wieder, der steht da und liest Blätter. »Wir wollen nicht nur den Rohschnitt sehen, sondern auch den endgültigen Schnitt«, sagt er jemandem. Er starrt mich an, dann winkt er mit den Fingern. »Herrschaften?« Das sagt er lauter. »Entschuldigen Sie? Der Junge ist zwar mit im Raum, aber darf nicht gefilmt werden. Auch keine Standbilder oder Schnappschüsse für zu Hause, haben wir uns verstanden?«
    Danach gucken alle mich an, ich mache die Augen zu.
    Als ich sie wieder aufmache, schüttelt noch eine andere Person Ma die Hand. Boah, das ist ja die Frau mit den plusterigen Haaren, die von dem roten Sofa. Das Sofa ist aber nicht da. Ich habe noch nie eine wirkliche Person aus dem Fernseher gesehen, lieber wäre mir, wenn es Dora wäre. »Als Einstieg sagen Sie was zu der Kontaktsperre-Verfügung, dazu zeigen wir Luftaufnahmen von dem Schuppen«, sagt ein Mann ihr. »Dann überblenden wir auf eine Nahaufnahme von ihr und dann auf die Halbtotale mit Ihnen beiden.« Die Frau mit den plusterigen Haaren grinst mich total breit an. Alle reden durcheinander und laufen hin und her, ich mache wieder die Augen zu und drücke auf die Löcher in meinen Ohren, Dr. Clay hat gesagt, das soll ich machen, wenn mir was zu viel wird. Jemand zählt: »Fünf, vier, drei zwei, eins …« Kommt jetzt eine Rakete?
    Die Frau mit den plusterigen Haaren hat plötzlich eine Extrastimme und die Hände zusammen, bestimmt betet sie. »Darf ich Ihnen zunächst meine Dankbarkeit und die all unserer Zuschauer dafür zum Ausdruck bringen, dass Sie schon sechs Tage nach Ihrer Befreiung mit uns sprechen wollen. Dafür, dass Sie sich nicht länger zum Schweigen bringen lassen wollen.«
    Ma lächelt ein bisschen.
    »Könnten Sie uns zunächst erzählen, was Sie in diesen sieben langen Jahren Ihrer Gefangenschaft am meisten vermisst haben? Abgesehen von Ihrer Familie natürlich?«
    »Ehrlich gesagt, einen Zahnarzt.« Mas Stimme ist ganz hoch und schnell. »Ein bisschen paradox, weil ich mir früher noch nicht mal gern die Zähne habe reinigen lassen.«
    »Jetzt finden Sie sich in einer neuen Welt wieder. Mit einer Weltwirtschaftskrise, einer Umweltkrise, einem neuen Präsidenten …«
    »Wir haben die Amtseinführung im TV gesehen«, sagt Ma.
    »Schön und gut. Aber es muss sich doch so vieles verändert haben.«
    Ma zuckt mit den Achseln. »Kommt mir alles nicht besonders anders vor. Aber ich war ja auch noch nicht wirklich vor der Tür, außer beim Zahnarzt.«
    Die Frau grinst, als ob das ein Witz gewesen wäre.
    »Nein, im Ernst, es kommt mir schon alles irgendwie anders vor, aber das liegt daran, dass ich selbst eine andere geworden bin.«
    »Haben die Verletzungen Sie stärker gemacht?«
    Ich reibe mir den Kopf, der ist immer noch verletzt von dem Tisch.
    Ma verzieht das Gesicht. »Vorher war ich … vollkommen durchschnittlich. Ich war … ach, noch nicht mal Vegetarierin. Ich hatte noch nicht mal eine Gothic-Phase.«
    »Und jetzt sind Sie eine ganz außergewöhnliche junge Frau mit einer ganz außergewöhnlichen Geschichte. Es ist uns eine Ehre, dass ausgerechnet unser Sender es ist, also wir …«
    Die Frau guckt weg, sie sieht eine von den Personen mit den Maschinen an.
    »Versuchen wir das noch mal.« Sie sieht wieder Ma an und macht ihre Extrastimme. »Und es ist uns eine Ehre, dass Sie uns gewählt haben, um diese Gesichte zu erzählen. Und ohne dass wir hier irgendwelche Parallelen etwa zum Stockholm-Syndrom andeuten wollen … nun ja, trotzdem sind unsere Zuschauer bestimmt neugierig darauf … ich meinte, beunruhigt … ob Sie möglicherweise in Bezug auf Ihren Kidnapper irgendeine Form von … emotionaler Abhängigkeit verspürt haben.«
    Ma schüttelt den Kopf. »Ich habe ihn gehasst.«
    Die Frau nickt.
    »Ich habe um mich getreten und geschrien. Einmal habe ich ihm den Toilettendeckel auf den Kopf geschlagen. Ich habe mich nicht mehr gewaschen und mich lange Zeit geweigert, überhaupt zu sprechen.«
    »War das vor oder nach dieser Tragödie mit der Totgeburt?«
    Ma tut die Hand vor den Mund.
    Morris platzt dazwischen, er blättert die Zettel durch. »Wir hatten eine Klausel … darüber möchte sie nicht sprechen.«
    »Oh, wir werden ganz gewiss nicht ins Detail gehen«, sagt die Frau mit den plusterigen Haaren. »Aber es scheint mir doch ganz entscheidend für alles zu sein,

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