Raum
sind jetzt bloß noch Brüste.
»Wünschst du dir manchmal, wir wären nicht geflohen?«
Ich höre nichts. Dann sagt sie: »Nein, das wünsche ich mir nie.«
»Es ist geradezu pervers«, sagt Ma zu Dr. Clay, »all die Jahre habe ich mich nach ein bisschen Gesellschaft gesehnt, und jetzt ist mir das einfach zu viel.«
Er nickt, sie trinken ein Schlückchen dampfigen Kaffee. Ma trinkt den jetzt auch, so wie alle Erwachsenen, damit sie auf Touren bleiben. Ich trinke immer noch Milch, aber manchmal ist es Schokoladenmilch, schmeckt wie Schokolade, aber die hier darf man. Ich bin auf dem Boden und mache mit Noreen ein Puzzle, superschwierig, mit 24 Bildern von einem Zug.
»An den meisten Tagen … reicht mir einfach nur Jack.«
»›Die Seele wählt den eig’nen Umgang sich – und – schließt die Tür.‹« Das ist seine Gedichtestimme.
Ma nickt. »Mag sein, aber so kenne ich mich von früher gar nicht.«
»Sie mussten sich verändern, um überleben zu können.«
Noreen sieht auf. »Und Sie müssen bedenken, sonst hätten Sie sich auch verändert. Wenn man erst mal über die zwanzig ist, ein Kind hat … Sie wären nicht dieselbe geblieben.«
Ma trinkt bloß weiter ihren Kaffee.
Einen Tag frage ich mich, ob die Fenster aufgehen. Ich probiere es mit dem im Bad, kriege raus, wie der Griff funktioniert, und schieb das Glas auf. Die Luft macht mir Angst, aber eigentlich ist es Mungst, ich lehne mich vor und strecke die Arme raus. Ich bin halb im Drinnen und halb im Draußen, total irre.
»Jack!« Ma zieht mich an meinem T-Shirt wieder ganz rein.
»Aua.«
»Da geht’s sechs Stockwerke tief. Wenn du runterfällst, zerschmetterst du dir den Kopf.«
»Aber ich bin doch gar nicht runtergefallen«, sage ich ihr, »ich war gleichzeitig im Drinnen und im Draußen.«
»Und gleichzeitig warst du total durchgeknallt«, sagt sie, aber sie lächelt schon beinahe.
Ich geh ihr in die Küche hinterher. In einer Schüssel verquirlt sie Eier für Arme Ritter. Die Schalen sind ganz kaputt, wir werfen sie einfach in den Müll, und tschüs. Ich frage mich, ob daraus wieder neue Eier werden. »Nach dem Himmel, kommen wir da wieder?«
Ich glaube, Ma hört mich gar nicht.
»Wachsen wir dann noch mal im Bäuchlein?«
»Das nennt man Reinkarnation.« Sie schneidet Brotscheiben ab. »Manche Leute glauben, dass wir als Esel oder Schnecken wiederkommen.«
»Nein, als Menschen in demselben Bäuchlein. Wenn ich wieder in dir wachse …«
Ma macht den Herd an. »Was willst du eigentlich genau wissen?«
»Nennst du mich dann wieder Jack?«
Sie guckt mich an. »Okay.«
»Versprochen?«
»Ich würde dich immer Jack nennen.«
Morgen ist Erster Mai, das heißt, der Sommer kommt, und es gibt einen Umzug. Vielleicht gehen wir hin und gucken zu. »Ist nur in der Welt Erster Mai?«, frage ich.
Wir essen auf dem Sofa Müsli in Schüsseln und passen gut auf, dass wir nichts verschütten. »Wie meinst du das?«, fragt Ma.
»Ist in Raum auch Erster Mai?«
»Ich denke schon, nur feiert ihn da keiner.«
»Wir könnten doch hingehen.«
Sie klirrt den Löffel in ihre Schüssel. »Jack.«
»Können wir?«
»Willst du wirklich ganz unbedingt?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht«, sage ich ihr.
»Gefällt es dir hier draußen nicht?«
»Doch. Bloß nicht alles.«
»Na schön, aber meistens? Gefällt es dir besser als Raum?«
»Meistens.« Ich esse den Rest von meinem Müsli auf und dann das bisschen, was noch in Mas Schüssel ist. »Können wir da irgendwann noch mal wieder hin?«
»Nicht zum Wohnen.«
Ich schüttele meinen Kopf. »Nur auf Besuch, für eine Minute.«
Ma lehnt ihren Mund auf ihre Hand. »Ich glaube nicht, dass ich das aushalte.«
»Doch, tust du.« Ich warte. »Ist es gefährlich?«
»Nein, aber schon allein bei der Vorstellung kriege ich ein Gefühl, als ob …«
Sie sagt nicht, als ob was. »Ich könnte doch deine Hand festhalten.«
Ma starrt mich an. »Und wie wäre es, wenn du vielleicht allein hingehst?«
»Nein.«
»Mit jemand zusammen natürlich. Mit Noreen?«
»Nein.«
»Oder mit Grandma?«
»Mit dir.«
»Ich kann nicht …«
»Ich entscheide für uns beide«, sage ich.
Sie steht auf, ich glaube, sie ist böse. Sie nimmt in MAS RAUM das Telefon und spricht mit jemandem.
Später am Morgen klingelt der Pförtner und sagt, für uns ist ein Polizeiauto da.
»Bist du immer noch Officer Oh?«
»Aber klar bin ich das«, sagt Officer Oh. »Lange nicht
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