Raum
Mann mit nur einem Bein, ich glaube, das andere hat er in einem Krieg verloren.
»Papagei«, ruft Ma und schaltet Fernseher auf stumm.
»Ich denke, der gramvollste Aspekt, das Herzzerreißendste an dem, was Sie durchlitten haben, ist für unsere Zuschauer …« Mir gehen die Wörter aus.
»Gute Aussprache«, sagt Ma. » Gramvoll heißt traurig.«
»Noch mal.«
»Dieselbe Sendung?«
»Nein, eine andere.«
Sie findet eine mit Nachrichten, die ist noch schwieriger. »Papagei.« Sie macht wieder auf stumm.
»Nun ja, mit dieser Etikett-Kommission so kurz nach der Gesundheitsreform und eingedenk der Tatsache, dass wir vor den Zwischenwahlen stehen …«
»Kommt noch was?« Ma wartet. »Das war auch wieder gut. Aber es hieß Enquete-Kommission und nicht Etikett-Kommission.«
»Was ist der Unterschied?«
»Ein Etikett ist ein Aufkleber, zum Beispiel auf Tomaten. Und Enquete …«
Ich gähne ganz lange.
»Ist ja auch egal.« Ma grinst und schaltet Fernseher aus.
Ich mag es nicht, wenn die Bilder verschwinden und der Bildschirm wieder bloß grau ist. Dann will ich jedes Mal weinen, aber nur im ersten Moment.
Ich klettere in Stuhlschaukel auf Mas Schoß, unsere Beine sind ganz ineinander. Sie ist ein Zauberer, der sich in einen Riesentintenfisch verwandelt hat, und ich bin Prinz JackerJack, und am Ende fliehe ich. Wir machen Kitzeln und Hoppe Hoppe Reiter und lauter spitze Schatten auf Bettwand.
Dann will ich den Hasen JackerJack hören, der spielt Gevatter Fuchs immer listige Streiche. Er legt sich auf die Straße und tut so, als ob er tot ist, und Gevatter Fuchs schnuppert an ihm und sagt: »Den nehm ich mal besser nicht mit nach Hause, der ist zu stinkig …« Ma schnuppert überall an mir rum und macht Fratzen. Ich versuche, nicht zu lachen, damit Gevatter Fuchs nicht merkt, dass ich am Leben bin, aber ich lache trotzdem immer.
Als Lied will ich was Lustiges haben, und sie fängt an:
»The worms crawl in, the worms crawl out …«
»They eat your guts like sauerkraut«, singe ich weiter.
»They eat your eyes, they eat your nose …«
»They eat the dirt between your toes …«
Dann kriege ich auf Bett richtig viel, aber mein Mund ist müde. Ma trägt mich in Schrank und steckt mir Mummeldecke fest unters Kinn, ich rupfe sie wieder los. Meine Finger spielen an dem roten Rand entlang Eisenbahn, puff puff .
Piep piep piep , das ist Türe. Ma springt auf und macht einen komischen Ton, ich glaube, sie hat sich den Kopf gestoßen. Sie macht Schrank ganz fest zu.
Die Luft, die reinkommt, ist ganz kalt. Ich glaube, das ist ein bisschen Weltall, es riecht gut. Türe sagt sein Wumpf , das heißt, Old Nick ist jetzt drin. Ich bin gar nicht mehr müde. Ich setze mich auf die Knie und gucke durch die Ritzen, aber ich kann nichts sehen außer Kommode und Wanne und eine Kurve von Tisch.
»Sieht lecker aus.« Old Nicks Stimme ist ganz tief.
»Ach, das ist nur der Rest vom Geburtstagskuchen«, sagt Ma.
»Du hättest mich erinnern sollen, dann hätte ich ihm was mitgebracht. Wie alt ist er jetzt? Vier?«
Ich warte, dass Ma es sagt, aber sie sagt nichts. »Fünf«, flüstere ich.
Aber sie muss mich gehört haben, weil sie ganz dicht an die Schrank kommt und wütend sagt: »Jack!«
Old Nick lacht, ich wusste gar nicht, dass er das kann. »Es kann ja sprechen.«
Warum sagt er es und nicht er ?
»Willst du rauskommen und deine neue Jeans anprobieren?«
Das sagt er nicht zu Ma, er meint mich. Meine Brust fängt an, bumm bumm bumm zu machen.
»Er schläft doch schon fast«, sagt Ma.
Nein, tue ich nicht. Ich wünschte, ich hätte nicht fünf geflüstert. Jetzt hat er mich gehört. Ich wünschte, ich hätte gar nichts gemacht.
»Ist ja schon gut«, sagt Old Nick gerade. »Kann ich ein Stück haben?«
»Er ist schon trocken. Wenn du wirklich willst …«
»Nein, vergiss es, du bist ja der Boss.«
Ma sagt nichts.
»Ich bin doch sowieso nur dafür da, einzukaufen und den Abfall rauszuschaffen, durch die Kinderabteilung zu tapern, die Leiter hochzuklettern und dein Oberlicht zu enteisen, immer zu Diensten, Ma’am …«
Ich glaube, er macht Sarkasmus, das heißt, er sagt in Wahrheit das Gegenteil und mit so einer falschen Stimme.
»Danke.« Ma hört sich gar nicht an wie sonst. »Jetzt haben wir viel mehr Licht.«
»Na, das war doch gar nicht so schwer, oder?«
»Tut mir leid. Vielen Dank, wollte ich sagen.«
»Manchmal muss ich dir wirklich alles aus der Nase ziehen.«
»Und danke für die
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