Rausch der Sinne
…”
“Das hat nicht so lange gedauert, wie ich dachte”, verkündete eine fröhliche Stimme.
Charlotte drehte sich zu Schwester Ann Johnson, die sich neben sie gesetzt hatte.
“Das Ablagesystem dort unten ist fantastisch.”
Nervös verflocht Charlotte ihre Finger mit Alexandres.
Die Krankenschwester öffnete die Akte, las kurz und blickte Charlotte dann erstaunt an. “Hier steht, dass Mary Ashton und ihr Mann nach einem Autounfall hier eingeliefert wurden. Er starb an den Unfallfolgen, doch sie erholte sich sehr bald. Eine Woche nach der Einlieferung wurde sie wieder entlassen.”
Charlotte hörte nur das Wort “entlassen”. Ein Beben ging durch ihren Körper. “D…danke.”
“Können Sie uns ihre Adresse nennen?”, fragte Alexandre.
“Tut mir leid – wir haben nur die Adresse in Kendall. Und ich weiß, dass sie nicht hier lebt.” Die Schwester stand auf. “Ich wünsche Ihnen, dass Sie sie finden werden.”
Charlotte blieb geschockt sitzen, als Ann Johnson ging.
Alexandre legte den Arm um sie. “Komm,
chérie.”
Dankbar lehnte sie sich an ihn, als er sie aus dem Krankenhaus und zum Wagen führte.
Er drängte sie nicht, etwas zu sagen, und Charlotte sprach erst, als sie das Krankenhausgelände schon verlassen hatten. “Ich habe nie weitergedacht als daran, herauszufinden, ob sie noch lebt oder nicht. Warum hat sie uns aufgegeben, wenn sie uns doch geliebt hat? Und sie hat uns geliebt, das
weiß
ich. Daran erinnere ich mich.”
“Charlotte.” Alexandre lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt an. Er streichelte ihre Wange.
Sie ließ sich von ihm trösten. “Es tut einfach weh zu wissen, dass sie die ganze Zeit gelebt hat. Wie oft habe ich eine Mutter gebraucht, und sie hat mir nicht geholfen, obwohl sie lebt.”
“Sie
konnte
dir nicht helfen,
ma petite.
Du weißt nicht, womit Spencer ihr vielleicht gedroht hat, wenn sie versuchte, Kontakt zu ihren Kindern aufzunehmen.”
“Du hast recht. Ich wüsste nur zu gern, wo sie jetzt ist.”
“Der Ort macht nicht den Eindruck, als hätte sich hier in den letzten Jahren viel geändert.”
Verblüfft über den scheinbar aus dem Zusammenhang gerissenen Gedanken richtete sie ihren Blick auf die Straße. Kendall war eben, wie fast ganz Nebraska. Der Frühling verbreitete einen Hauch von frischem Grün, und die wenigen Bäume blühten pinkfarben oder weiß. Die Stadt selbst aber hatte keine Ausstrahlung, die Gebäude waren mit jahrzehntealtem Staub überzogen. “Nein.”
“Vielleicht erinnert sich jemand an deine Eltern?”
Jetzt verstand Charlotte seinen Gedankengang. “Es ist lange her, aber wir können es versuchen. Wir könnten die Männer dort drüben fragen.” Sie deutete auf eine Gruppe von drei älteren Männern, die an einem Tisch vor dem Coffeeshop saßen. “Sie sehen aus, als wohnten sie seit ewigen Zeiten hier.”
“Es ist einen Versuch wert. Wenn sie uns nicht helfen können, dann probieren wir es im Rathaus.”
Sie stiegen aus, überquerten die leere Straße und gingen zu dem Coffeeshop.
Als sie fast bei den Männern angekommen waren, rieb sich einer von ihnen die wasserblauen Augen und sagte: “Was für ein Anblick! So etwas Hübsches habe ich nicht mehr gesehen, seit Mary Little Dove weggezogen ist.”
Charlotte erstarrte. “Sie kennen meine Mutter?”, fragte sie ungläubig. So einfach konnte es doch nicht sein.
Der Mann lachte. “Die kleine Charlotte Ashton. Das kann doch wohl nicht wahr sein!” Er schlug sich auf den Schenkel und warf seine Karten auf den Tisch. “Hätte nicht geglaubt, dich jemals wiederzusehen, nachdem Mary alles verkauft und die Stadt verlassen hat.”
Offensichtlich glaubte der Mann, sie hätte bei ihrer Mutter gelebt. Sie beschloss, ihn nicht zu berichtigen. “Das war …”
Er kratzte sich am Kopf. “Das war direkt nach dem Tod deines Vaters, richtig?”
Ein anderer Mann nickte. “Traurige Sache. Mitten aus dem Leben gerissen. Ich mochte David. War ein guter Mann.”
Plötzlich erinnerte sie sich lebhaft an den Vater, den sie so früh verloren hatte. “Meine Mutter hatte keinen Kontakt mehr zu irgendjemandem in der Stadt, oder?”
“Das stimmt leider. Sie war todunglücklich. Hat einfach ihre Sachen gepackt und ist gegangen. Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört.” Er lächelte bei der Erinnerung. “Sie war ein hübsches kleines Ding. Aber ich denke, es war gut, dass sie zu ihren Leuten zurückgegangen ist – sie brauchte jemanden, der sich um sie
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