Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Stonehenge eingefallen waren, klein und unbedeutend - bunte, aber vergängliche Farbtupfer des Lebens vor dem Schwarz von Äonen, das für Nacht und Tod zu stehen schien. Zwei dieser bunten Tupfen waren seine Frau Marjorie und sein Sohn Allan, die er schon vorausgeschickt hatte, weil sich etwas in ihm sträubte, weiterzugehen.
Denn irgendwo dort vorne war vor wenigen Wochen ein schauerlicher Ritualmord passiert. Ein rasender Irrer namens Barry Lamb hatte zu nächtlicher Stunde die junge Betty Malloy vermutlich bestialisch abgeschlachtet und sie dann auf einem Altarstein im Zentrum Stonehenges als Opfer für irgendwelche dunklen Götter verbrannt. Lamb, so hieß es, war auch für weitere Ritualmorde in der Umgebung des uralten Steinkreises verantwortlich, denen zunächst ein Farmerehepaar und schließlich ein junger Mann aus der nahe gelegenen Ortschaft Karghill zum Opfer gefallen waren. Die Begleiterin des jungen Mannes - seine Verlobte - war bis auf den heutigen Tag verschwunden, aber jeder einigermaßen mit Fantasie begabte britische Bürger konnte sich ohne Schwierigkeiten vorstellen, was Barry Lamb wohl mit ihr gemacht haben mochte. Dafür hatten die Medien schon gesorgt.
Besonders die Boulevardzeitungen hatten den Fall nämlich trotz halbherziger Versuche der Behörden, die Sache herunterzuspielen, weidlich und mit Genuss ausgeschlachtet. Für sie war Barry Lamb nur noch »Der Schlächter von Stonehenge« oder »Der schwarze Druide«.
Im Gegensatz zu den meisten seiner Bekannten fand Brian McDermott das nicht auf düstere Weise romantisch, sondern einfach nur widerwärtig und abstoßend. Er war ein Mensch, der alles Sensationelle verabscheute, und viel mehr als die albtraumhaften Begleitumstände der Tat hatten ihn ihre Hintergründe interessiert - die Motive, die Barry Lamb zu seinen wahnsinnigen Menschenopfern trieben.
Aber darüber hatten die Zeitungen nichts geschrieben. Barry Lamb schien ein Mann ohne Vergangenheit gewesen zu sein - ohne Freunde, ohne Familie. Fast das Einzige, was man sicher über ihn zu wissen schien, waren die Umstände seines Todes. Von Beamten des Yard umzingelt, hatte er in einem alten Bauernhaus einige Meilen von Stonehenge und Karghill entfernt Feuer gelegt und war in den Flammen umgekommen.
Eine Bewegung am Rande seines Gesichtsfelds riss Brian McDermott aus seinen düsteren Gedanken. Als er aufblickte, sah er, dass einige Hundert Schritt voraus Allan auf einen schwarzen Steinbrocken geklettert war und ihm nun mit seinen dünnen Ärmchen zuwinkte. Der Junge schien auch etwas zu rufen, vermutlich eine Aufforderung, doch endlich zu ihm und Marjorie aufzuschließen, aber auf diese Entfernung vermochte Brian die Stimme des Fünfjährigen nicht deutlich genug zu hören, als dass er die Worte hätte verstehen können.
Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Für Allan war Stonehenge ein einziger großer Abenteuerspielplatz. Den Jungen kümmerte es herzlich wenig, dass seine Eltern und die ganzen anderen Erwachsenen nur aus dem morbiden Interesse heraus hierher gekommen waren, sich den Schauplatz eines der entsetzlichsten Ritualmorde in der britischen Kriminalgeschichte aus nächster Nähe anzusehen. Und das war auch gut so.
Brian hoffte nur, dass Allan wenigstens in dieser Hinsicht nicht seiner Mutter nachschlagen würde, die sich mit geradezu krankhafter Neugier für alle Bluttaten interessierte, die sich irgendwo auf den britischen Inseln zutrugen. Sie interessierte sich auch für jede noch so unergiebige Neuigkeit aus dem britischen Königshaus. Aber darin unterschied sie sich nicht von Millionen anderer englischer Hausfrauen, und er hatte gewusst, worauf er sich einließ, als er sie heiratete.
Sein Lächeln vertiefte sich. Wahrscheinlich nervte er sie mit seinem Gerede über Hunderennen und den britischen Fußballcup genauso wie sie ihn mit ihren Berichten über den neuesten Hoftratsch - oder, wie in den letzten Wochen, über die neuesten Einzelheiten im Falle des »Schwarzen Druiden«.
Er hob die Hände zum Mund, formte sie zu einem Trichter und rief ein weithin hallendes »Koooomme«, das viel fröhlicher klang, als ihm zumute war. Sein Ruf verfing sich in den labyrinthischen Steinquadern ringsum und rollte als vielfach gebrochenes Echo zu ihm zurück. Einen Augenblick lang hatte er das absurde Gefühl, als sei das nicht seine eigene Stimme, die er da vernahm, sondern Stonehenge selbst, das mit zahlreichen heiseren Stimmen zu ihm sprach und versuchte, ihm
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